Saarbrücker Tanzfestival Vom Glück messerscharfer Präzision

Saarbrücken · Saarbrücker Tanzfestival: Der Freitag erwies sich mit heiteren und explosiven Choreographien als mustergültiger Festivaltag.

 Ohad Naharins herausragende Choreographie „Minus 16“, unser Szenenbild, riss das Saarbrücker Publikum im Großen Haus von den Sitzen. 

Ohad Naharins herausragende Choreographie „Minus 16“, unser Szenenbild, riss das Saarbrücker Publikum im Großen Haus von den Sitzen. 

Foto: Iris Maria Maurer

Theater Trier und Tanz? Nein, das ist nicht die Champions League. Das dachten sich wohl viele, womöglich ist eine 22-Uhr-Vorstellung dann selbst für ein Festival zu spät. Jedenfalls füllte sich die Alte Feuerwache am Freitag nur schütter. Wer wegblieb, hat was verpasst. Denn es passierte ein kleines Wunder. Urs Dietrichs „Clip“ erwies sich als sehr spezielles, sehr ausgefallenes, als ein außerordentliches Stück. Es entstand im Januar 2018 für das krisengeschüttelte Theater Trier, dessen Tanzsparte erst in dieser Spielzeit von Roberto Scafati übernommen wurde.

Frappierend ungewöhnlich sind beim „Clip“ Musik, Setting und Tanzstil. Die Dreiecksgeschichte – zwei Männer, eine Frau – spielt irgendwo im im Trappermilieu. Die Tänzer (Robert Przybyl, Sergey Zhukov, Lucyna Zwolinska) tragen Pelzmützen, die Frau zusätzlich einen riesigen Hochzeitsrock. Die Drei durchwaten und durchpflügen einen hüfthohen Riesenberg trockener Herbstblätter. Das Rascheln wird schnell zur zweiten Klang- und Rhythmus-Quelle, neben einer geheimnisvoll-naturhaften Elektromusik-Kulisse. Man hört Wölfe heulen, die Menschen bewegen sich bedächtig wie Vögel oder Wildtiere, biegen sich wie Zweige. Alles geschieht aus der Körpermitte heraus, in weiten Arm- und Beinschwüngen. Man schrickt voreinander zurück, nähert sich nur vorsichtig an, die Männer messen sich aneinander. Es geht um Eifersucht und Konkurrenzkampf, um Naturgesetze. Am Ende steht ein Happy End, denn das Trio ist zur Gruppe gewachsen – Dietrich liefert also eine subtile Parabel über die Überwindung von Ängsten, Fremdheit und Egoismen. Ein mustergültiger Festivalbeitrag, weil eine unverhoffte Entdeckung.

Zuvor, im Staatstheater, war das Champions-League-Programm gelaufen: ein Gastspiel der jungen spanischen Gruppe IT Dansa, die drei Klassiker von Stars der Tanzszene mitbrachten. Bereits bei der Erstausgabe des „Tanzfestivals Saar“ 2015 unter der Ägide des Saarbrücker Ballettchefs Stijn Celis waren Jiri Kylian, Sidi Larbi Cherkaoui und Ohad Naharin mit von der Partie. Letzterer lieferte damals mit „Hora“ den Höhepunkt des Festivals, was ihm auch diesmal gelingen könnte. Sein Stück „Minus 16“ (1999) riss das Publikum von den Sitzen. Was für ein Tanzfest, was für eine Charmeoffensive! Bereits das wilde Mosaik der Musikstücke – jüdische Folklore, Vivaldi, Rock, Chacha, Paul Lincke – sagt viel über den unorthodoxen, explosiven Charakter dieser Arbeit. Frei und wild und kühn geht es zu. Und was ist das für eine Kraftpaket-Compagnie! Die 15 Tänzer kreischen, reißen sich die Klamotten vom Leib, krallen sich schließlich neue Tanzpartner aus dem Publikum, führen sie auf die Bühne. Eine banale Mitmach-Nummer? Ganz falsch. Naharin sprengt die Grenzen zwischen Ballett, Disco-, Show- und Gesellschaftstanz. Er zeigt, dass Tanz dem Ausdruck von Individualität und Persönlichkeit dient, von Lebensfreude und Leidenschaft.

Wie messerscharf-exakt und konventionell die Truppe dann aber auch zu tanzen weiß, erlebte man zuvor, bei Kylians satirischer Mozart-Hommage „Sechs Tänze“ (1986) und bei Cherkaouis „In Memoriam“ (2004). Hier geht es um das Thema Tradition, Ahnen und Erinnerung, wobei sich diese Inhaltsebene kaum erschließt. Beigebraun die Kostüme aus einer anderen Kultur, das Licht golden. Im ersten Pas de deux vollzieht sich unablässig Gewalt gegen eine Frau (Mathilde Lin). Zu Ethno-Gesang wird sie getreten, herumgeschleudert wie eine Puppe, in den Bauch gestochen, sie lässt alles geschehen. Bis eine erste liebevolle Geste von ihr den Mann stoppt, ihn gar tötet. In ihrer zweiten Beziehung wird die Frau fürsorglich behandelt, doch am Ende verlässt sie diesen guten Kerl. Die Spannung zwischen Zärtlichkeit und Aggression, sie wird hier in markanten Figuren vertanzt, als deutungsoffene, stimmungsvolle Geschichte. Verglichen mit Naharin und Cherkaoui nehmen sich die „Sechs Tänze“ zu Mozarts gleichnamiger Komposition nahezu brav aus. Paare tollen in Barock-Kleidern über die Bühne, man gockelt, flirtet, neckt und ziert sich. Ein komisch-burleskes Mozart-Tollhaus, dicht am klassischen Ballett-Bewegungsrepertoire, temporeich und mit messerscharfer Präzision dargeboten. Spritzig geht es zu, putzig ist’s, kindlich-drollig, aber just deshalb unwiderstehlich.

 Szene aus Urs Dietrichs Tanzstück „Clip“, einem bemerkenswerten Gastspiel des Theaters Trier in Saarbrückens Alter Feuerwache. 

Szene aus Urs Dietrichs Tanzstück „Clip“, einem bemerkenswerten Gastspiel des Theaters Trier in Saarbrückens Alter Feuerwache. 

Foto: Oliver Look/Theater Trier/OLIVER LOOK

Insgesamt war der Freitag also ein Festivaltag, der keine Wünsche offen ließ. Oder doch: den nach mehr Festivalatmosphäre. Vermisst wird ein Gastgeber. Zwar trifft und sieht man den Saarbrücker Ballettchef Stijn Celis jeden Abend, aber Eröffnungs- und Begrüßungsreden hielten bisher andere. Doch ein Festival, es will als Kommunikationsform gelebt sein.

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