Ballett am Saar-Staatstheater Verlorenes Dornröschen auf Zeitreise

Saarbrücken · Familiendrama und Kriegs-Story: Der Saarbrücker Ballettchef Stijn Celis hat am Samstag seine eigene Version des Tanz-Klassikers von Tchaikowsky auf die Staatstheater-Bühne gebracht. Schlüssig ist sie nicht.

 Großartig: Pascal Schut (links), hier als König, und Saúl Vega-Mendoza als böses, wütendes Hexenwesen Carabosse.

Großartig: Pascal Schut (links), hier als König, und Saúl Vega-Mendoza als böses, wütendes Hexenwesen Carabosse.

Foto: Bettina Stoess

Das Mädchen hat viel mitgemacht. Zuerst missverstanden die Zeitgenossen der Grimms deren Figur als Inbegriff  töchterlicher und sexueller Fügsamkeit, danach trippelte die Prinzessin, die 100 Jahre schlafen muss, bevor sie geküsst wird, als aufgezäumte Kostümfest-Ikone russischer Ballett-Tradition über die Bühnen dieser Welt. Marius Petipa hatte sie 1890 erfunden, und selbst Freudianern und Feministinnen gelang keine nachhaltige Befreiung aus der Opfer- und Unschuldsrolle. Immerhin landete die schlafende Prinzessin Ende der 90er Jahre durch den großen Choreografen Mats Ek im Fixermilieu, und jetzt, in Saarbrücken? Da schickt Stijn Celis sie auf eine Irrfahrt zwischen Fantasy und Realismus, zwischen Familiendrama und Menschheitsepos. Schlüssig ist das nicht, aber zumindest tänzerisch oft ein Labsal.

Die neu engagierte Mahomi Endoh gibt als Titelheldin einen großartigen Einstand: zerbrechlich und zäh, kraftvoll und gebrochen. Derweil stolpert der Saarbrücker Ballettchef über wirr ausgelegte Erzählfäden. Immerhin servierte er dem Premierenpublikum am Samstag im Staatstheater nicht die übliche Teenager-Erweckungsgeschichte, sondern hob ab auf den ewigen Kreislauf und Kampf zwischen zerstörerischen und guten Kräften in der Welt. Zugleich ging es ihm aber auch um eine in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verlorene Tochter. Sein Personal: Prinzen in historischen Kniehosen und ochsenblutroten Gehröcken, mythische Urgestalten zwischen Leder-Drag-Queen und Zombie, Harlekine, Mondfrauen und Krankenhaus-Schwestern im 40er-Jahre-Look (Kostüme: Catherine Voeffray). Dazu drapiert er Anspielungen auf Adam und Eva, auf Frankenstein-Filme und Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“. Bereits diese Aufzählung verweist auf das Haupt-Handicap einer Produktion, die tänzerisch fasziniert und erzählerisch frustriert: Brüchigkeit.

Zeitsprünge und ein kaum durchschaubarer Motiv-, Symbol- und Figurenmix aus gleich drei Dornröschen-Märchen (Charles Perrault, Giambattista Basile, Brüder Grimm) machen das Verständnis schwerer als nötig. Zu Beginn, im Palast, entfalten sich Magie und Magnetismus einer zeitentrückten Allgemeingültigkeit. Denn Alexandra Christian und Pascal Schut sind als Königspaar ein tänzerischer Ideal- und Glücksfall. Celis hat ihnen eine Intimität auf den Leib geschrieben, die den Atem stocken lässt: sublimierter Alltag bis hin zum Zähneputzen. Und natürliche Zärtlichkeit und Überfürsorge gegenüber der Tochter. Auch für die unterdrückte Aggressivität der Prinzen findet Celis Bewegungslösungen jenseits jeder Standardkost. Sie verfallen oft ins Ruckhaft-Animalische, muten auch schon mal wie Al-Quaida-Krieger an. Zudem darf Saúl Vega-Mendoza als böse Fee Carabosse und fieser Verführer alle Register exaltierten, expressiven Armreckens und Grätschens ziehen.

Atmosphärisch spielt dieses „Dornröschen“ in einer gefährdeten, gefährlichen Welt. Jan Messerli hat exquisite reduzierte Zeichen für Schloss oder Wald gefunden. Hier fliegen Rosen wie Wurfspeere und schließlich, über Videobilder, auch Kriegsbomber. Letzteres lässt Stil und Stimmung kippen. Der Abend blutet aus, zerfranst. An der Musik liegt das wahrlich nicht. Celis hat sich auch aus der Partitur Peter Tschaikowskys gleichermaßen frei bedient, hat sie auf 90 Minuten gekürzt und umgestellt. Und Dirigent Stefan Neubert macht mit dem Staatsorchester die schwankende Unterwelt hinter den schwingend melodiösen Klang-Vordergründen hörbar, er greift tief in den Farbtopf. Trotzdem gelingen beglückende Aquarell-Töne, etwa der Geigen. So stand der Abend, der viel Beifall bekam, zumindest musikalisch auf mehr als solidem Sockel. Doch Abheben in den Balletthimmel? Wahrlich nicht.

 Großartiger Einstand: Pascal Schut als Prinz Florimund und Mahomi Endoh als Aurora.

Großartiger Einstand: Pascal Schut als Prinz Florimund und Mahomi Endoh als Aurora.

Foto: Bettina Stoess

Weitere Termine: 15., 18., 22., 26., 28., 31. Oktober, Tel. (06 81) 30 92 486.

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