Mainzer Kunsthalle Risiken & Nebenwirkungen kennt Ihr Avatar

Mainz · Die Mainzer Kunsthalle widmet sich in einer großen Schau den Gefahren und Abgründen der virtuellen Welten von heute und morgen.

 Videostandbild aus „Second Life“ der chinesischen Multimedia-Künstlerin Cao Fei. Darin begleitet ein Baby einen Avatar und stellt die Frage nach dem Altern in der virtuellen Welt: „Ich will nicht immer ein Baby bleiben!“, sagt es. Der Mutter-Avatar  verspricht: „Du wirst noch viele verschiedene Identitäten haben.“

Videostandbild aus „Second Life“ der chinesischen Multimedia-Künstlerin Cao Fei. Darin begleitet ein Baby einen Avatar und stellt die Frage nach dem Altern in der virtuellen Welt: „Ich will nicht immer ein Baby bleiben!“, sagt es. Der Mutter-Avatar  verspricht: „Du wirst noch viele verschiedene Identitäten haben.“

Foto: dpa/Andreas Arnold

(dpa/SZ) Der Ausstellungstitel „Virtual Insanity“ („Virtueller Wahnsinn“) ist programmatisch zu verstehen. Was die Mainzer Kunsthalle seit vergangenen Donnerstag von zehn internationalen Künstlern an Skulpturen, Installationen und Videos hat zusammentragen lassen, versucht nicht weniger als die nicht selten dicht in Irrsinn abgleitenden Übergänge zwischen virtueller Realität (VR) und der physisch erfahrbaren Welt vor Augen zu führen.

„Ohne Frage erfüllt sich mit der Expansion unserer Realität eine menschliche Utopie“, sagt Kuratorin Stefanie Böttcher. „Doch es gibt – und das ist bereits jetzt spürbar – Nebenwirkungen, die nicht erwünscht, teilweise sogar gefährlich sind.“ Konkret gesprochen: Nicht selten auftretende Symptome sind Erschöpfung und körperlicher Schwindel (in dieser Kombination mittlerweile auch als „Simulator-Krankheit“ bekannt), sozialer Rückzug und Verrohung. Auf die Besucher warten teilweise sehr verstörende Darstellungen wie die Arbeit „Real Violence“ (2017) von Jordan Wolfson. Wer sich die VR-Brille aufsetzt, die am Computer erzeugte 360-Grad-Umgebungen simuliert, in denen sich der Besucher teils frei bewegen kann, wird in eine Straße in New York versetzt und erlebt, wie ein junger Mann brutal zusammengeschlagen und getreten wird. Was die Begegnung mit solchen digital erzeugten Realitäten anrichtet, ist das Thema von Jon Rafmans Video-Installation „Dream Journal“. Hier verbinden sich surreale Albträume mit Gewalt und sexuellen Obsessionen.

 Antoine Catala aus Toulouse beschäftigt der Verlust der Fähigkeit, authentische Gefühle zu entwickeln. Seine 2017 entstandenen Bildschirm­installationen machen deutlich, dass die Sehnsucht nach Liebe und Berührung bleibt, auch wenn der Mensch sich in der Digitalisierung verändert und die Distanz zur vorherrschenden Erfahrung wird. Eine Wiederbegegnung mit der virtuellen Welt „Second Life“ bietet die Video-Arbeit der chinesischen Multimedia-Künstlerin Cao Fei. Der Avatar der Künstlerin wird hier von einem Baby begleitet, das die Frage nach dem Altern in der virtuellen Welt stellt: „Ich will nicht immer ein Baby bleiben!“ Das kann der Mutter-Avatar nicht versprechen. Er stellt stattdessen in Aussicht: „Du wirst noch viele verschiedene Identitäten bekommen.“

 Nach all den mitunter schwierigen Begegnungen wartet zum Abschluss des Rundgangs ein heil­samer Abschluss auf die Besucher: In der Installation von Tabita Rezaire lässt sich über blauen Sand schreiten und ein virtuelles Raumschiff besteigen, auf dem man sich mit Hilfe einer VR-Brille auf eine spirituelle Reise zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte begeben kann.

 Der Titel der Ausstellung ist einem Song der britischen Band Jamiroquai aus dem Jahr 1996 entlehnt. Damals seien die begründeten Ängste vor den Folgen der Virtualisierung schon eindrücklich vorweggenommen worden, so Ausstellungskuratorin Böttcher. Es könne durchaus reizvoll sein, sich mit Hilfe der Technik an einen anderen Ort oder in eine andere Person zu versetzen. Aber dann stelle sich die Frage: „Was geschieht, wenn die konstruierten Wirklichkeiten so real und attraktiv werden, dass der Anwender nicht mehr zurückkehren, nicht mehr auftauchen möchte?“ Schon jetzt zeichnet sich ab, dass das Nebeneinander von realer und virtueller Welt umso schwieriger ist, je perfekter die entworfenen Welten uns das Gefühl geben, tatsächlich Teil davon zu sein.

Der Künstler und Filmemacher Harun Farocki, 2014 in Berlin gestorben, hat dies bereits 2009 in seiner nun wieder in Mainz zu sehenden Installation „Ernste Spiele“ verdeutlicht: Er filmte damals auf einem kalifornischen Militärstützpunkt US-Marines, die am Computer auf ihren Afghanistan-Einsatz vorbereitet wurden und etwa am Bildschirm Panzerfahrzeuge durch eine täuschend echt simulierte Wüstenlandschaft lenken sollten. Ihr Ausbilder platzierte für das Bildschirm-Training an den Panzern Sprengsätze, die ihre Mitsoldaten zerfetzten – Erfahrungen, die manche von ihnen später im realen Einsatz hautnah erlebten. Das US-Militär wendet diese Animationsprogramme inzwischen in seiner sogenannten Immersionstherapie an, um traumatisierte Soldaten genau solche Schlüsselerlebnisse wiederholen zu lassen.

 „Slide to Expose“ von Refrakt, Nicole Ruggiero und Molly Soda: Was wie ein Jugendzimmer wirkt, entpuppt sich, sobald man ein iPhone mit einer Spezial-App über die Gegenstände hält, als Überwachungsalbtraum.

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Bis 18. November. Di, Do, Fr: 10-18 Uhr; Mi: 10 bis 21 Uhr; Sa, So: 11 bis 18 Uhr.

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