Literatur Reiseführer in Frankreichs verborgene Zwischenräume

Saarbrücken · Jean-Christophe Bailly erkundet drei Jahre lang sein Land.

 Jean-Christophe Bailly

Jean-Christophe Bailly

Foto: Matthes & Seitz

Kann man Landschaften lesen wie eine Partitur? Dörfer und Städte dechiffrieren? Was würde man finden – die Essenz eines Landes? Charakterzüge einer Nation? Der Anspruch erscheint verwegen. Der Autor und Essayist Jean-Christophe Bailly (68) tut genau das: „Das Thema dieses Buches ist Frankreich. Es geht darum zu verstehen, was dieses Wort heute bezeichnet und ob es zutrifft, dass es etwas bezeichnet, was per se anderswo nicht existieren könnte, jedenfalls nicht so und nicht in dieser Weise.“

Bailly begibt sich auf die Reise durch ein „Fremd gewordenes Land“. Die Projektidee entstand, als er in New York einen französischen Filmklassiker wieder entdeckte, Jean Renoirs „Die Spielregel“ von 1939. Das Wiedersehen führt zur „Offenbarung einer Zugehörigkeit und einer Vertrautheit“. Dem Gefühl, dass das Gesehene mit dem Betrachter aufs engste verbunden ist. So entstand der Wunsch, diesem Rätsel der Empfindung auf die Spur zu kommen. Drei Jahre lang fährt er von 2008 bis 2010 durch Frankreich. Sucht Orte auf, die in ihren tieferen Schichten etwas verraten könnten über die Nation. Entdeckt Abgelegenes, blickt mit dem Auge des Historikers und Archäologen, des Kunstkenners und Zeichenlesers, des Ethnografen und Kritikers auf bedeutsame Orte und vergessene Käffer: Er fährt nach Verdun; besucht das Atelier Rodins und die Heimat Rimbauds. Oder flieht rasch aus Culoz im äußersten Westen des Rhônetals, wo ihm einzig ein muslimisches Pärchen auffällt, das in dieser „versteckten Falte der Welt“ gestrandet ist und dem er in Gedanken folgt. „Ich weiß und kann behaupten, dass ,Frankreich’ heute daraus besteht, auch daraus besteht, aus diesen Exilen, diesen Rückzugsorten, diesen verborgenen Altären, und dass dort eine Art Bumerang-Effekt der Kolonialzeit eintritt.“

In Baillys klugen, teils mäandernden Gedankengängen und sich netzartig ausbreitenden Satzgefügen wird alles mitgedacht: Vergangenheit und Gegenwart, Möglichkeitsräume und Verdichtungen, die Gegenstände und Orte offenbaren. Bailly selbst versteht seine Prosa als „kaleidoskopisches Buch“ – eine Mischung aus Essay, Logbuch, Erzählung, Prosagedicht gar. Baillys mitunter sehr anspruchsvolle Betrachtungen taugen nicht oder nur indirekt für eine politische Gegenwartsdiagnose. Sie liefern vielmehr eine „bewegliche Momentaufnahme des Landes“ – einen Reiseführer in die verborgenen Zwischenräume Frankreichs.

Jean-Christophe Bailly: Fremd gewordenes Land. Streifzüge durch Frankreich. A. d. Frz. von Andreas Riehle. Nachwort von Hanns Zischler. Matthes & Seitz. 464 Seiten, 28 €.

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