Realismus verlangt Demütigung

Saarbrücken · James Salter, der im Juni 2015, wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag, starb und erst sehr spät zu Ruhm kam, gehörte zu den begnadetsten Realisten unter den US-Autoren. Seine Figuren ließ er mit Hingabe scheitern. Alle Short Stories Salters sind nun in einem Band erhältlich. „Charisma“ zeigt, dass er ein Meister cineastischen Erzählens war. Salter genügten wenige Sätze, um eine emotionale Großwetterlage zu evozieren.

Wie macht das Salter? Wie machen das die Amerikaner? Denn dieser beiläufige, aber ungemein treffsichere Ton, der irgendwann, von einem Moment auf den anderen ganz unvermittelt, wie ein Messer zusticht und eine Person, ein Leben zur Strecke bringt - dieser beiläufige, treffsichere Ton ist sehr typisch für amerikanische Erzähler. Ob sie nun Raymond Carver, Richard Ford, John Updike, Richard Yates oder James Salter heißen.

Salter, der im Juni 2015, wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag, während einer Trainingseinheit bei seinem Physiotherapeuten zusammenbrach und starb, hat einmal gesagt, das Wichtigste beim Schreiben sei das Weglassen. Er war ein Meister darin. "Ballast abwerfen, bis unter dem Überflüssigen das Wesentliche sichtbar wird", so umriss er auf einer seiner Lesereisen durch Europa vor einer guten Dekade einmal dieses, sein literarisches Verfahren.

Salter besaß die Gabe, die Zwischenräume seiner Sätze sichtbar zu machen, sie zu Vorstellungswelten aufzuladen. Vielleicht wurde sein filmisches Erzählen dadurch geschult, dass er vor und neben der Schriftstellerei jahrelang als Drehbuchautor wirkte. Ende der 50er hatte Salter, der zwölf Jahre als Pilot der US-Luftwaffe Kampfjets flog, seine Künstlerexistenz begonnen. Jedenfalls liest man diese brillanten, wie gemeißelt wirkenden Short Stories und hat sogleich jede einzelne Gestalt, jede Szene und Kulisse in einer handgreiflichen Plastizität vor Augen, als säße man im Kino. Dass der Berlin Verlag nun unter dem Titel "Charisma" sämtliche Erzählungen Salters bündelt, kann man denn auch nicht anders als einen Glücksfall bezeichnen.

Schon "Am Strande von Tanger", die erste der 22 Erzählungen, lässt ihre Figuren in beherzter Ahnungslosigkeit den Gipfel der großen Desillusion besteigen: Nico, eine feinsinnige, deutsche Schönheit, und Malcolm, ein selbstverliebter Künstler, machen mit der querulantischen Inge einen Ausflug ans Meer. Inges Auftauchen reißt, ohne dass das genaue Wodurch wichtig wäre, den Behaglichkeitsschleier von Malcolms und Nicos Beziehung. Als fegte alleine die Dreieckskonstellation des Ausfluges die ganze Paar-Arithmetik hinweg. Am Ende ist Nicos Kanarienvogel tot ("ein Herz, nicht größer als ein Orangenkern, hat aufgehört zu schlagen"), liegt sie schluchzend im Bett, während Malcolm, als gelte es ein Kreuzworträtsel zu lösen, ihren Marktwert überdenkt.

Es gibt wenige Autoren, die so erbarmungslos wie Salter in zwei, drei Sätzen ein ganzes Leben schlachten und es bis auf die Knochen herabschälen können. Etwa das von Catherine, der Jugendliebe des kaltherzigen Anwalts Frank in "American Express": "Sie machte alles, was ihre Mutter nicht gemacht hatte, aber sie wollte einmal so leben, wie ihre Mutter lebte, in genau so einer Wohnung, mit genau solchen tiefen Sesseln." Genau so wird es kommen. Die Liebe, die Salter in seinem letzten, 2013 erschienenen, sechsten Roman "Alles, was ist" einen "Schmelzofen" nannte, "in den alles geworfen wird", ist bei ihm nur dazu da, die große Einsamkeit besser fühlen zu lassen. Salter lässt die Beziehungen seiner Figuren mit Hingabe scheitern.

In "Dämmerung" liegt Mrs. Chandlers Herz nach nur sieben Seiten wie ein Jagdopfer im nassen Gras: Sieben Seiten, auf denen ihr erst ihr Mann beiläufig mitteilt, dass er eine andere hat, sie ihn hinauswirft und ihr dann auch der Nachbar, mit dem sie ein kleines Verhältnis in Gestalt homöopathische Liebesdosen verströmender Vollzugsdienste anfing, den Laufpass gibt.

In seinem Vorwort zu dem Band, dem auch drei, 2014 gehaltene Vorlesungen Salters über "Die Kunst der Literatur", "Leben als Kunst" und "Wie man Romane schreibt" beigefügt sind, schreibt Salters Autorenkollege John Banville gleich zu Anfang: "Nichts in der Literatur ist schwieriger als die Darstellung von ganz banaler Wirklichkeit." Salters Erzählungen zeigen sie wie unter einem Brennglas: ungeschminkt, unverblümt. Als verlange Ehrlichkeit Demütigung, reißt Salter seinen Figuren die Illusionen vom Leib. Nacktheit hat bei Salter nichts mit Unschuld zu tun. Es heißt nur, schmerzanfälliger zu sein für des Lebens Messerstiche: ob nun "brennende Eifersucht" (Leitmotiv in der wunderbaren Erzählung "Platin"), das gottgleiche Wirken von Zufall oder Schicksal (die Grundidee in "Letzte Nacht") oder die Einsicht, Glück nicht wiederholen zu können (die Arthur in "Palm Court" mitten auf der Straße in Tränen ausbrechen lässt).

Wie macht Salter das also, dass man bei ihm wie in einem hyperrealen Lebensfilm sitzt? Für seine Geschichten gilt, was er in einer seiner Vorlesungen über die Isaak Babels sagte: "Sie sind zu einer atemberaubenden Intensität verdichtet."

James Salter: Charisma. Sämtliche Stories. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Beatrice Howeg, Malte Friedrich und Nikolaus Hansen. Berlin Verlag, 368 Seiten, 22 €.

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