Barenboim-Debatte Der angeschossene Platzhirsch

Düsseldorf · Stardirigent Daniel Barenboim soll jahrelang Musiker drangsaliert haben.

Das Thema war bekannt, doch im Windkanal der MeToo-Debatte wurde seine Brisanz unübersehbar und erhitzt nun die Gemüter. Hat Dirigent Daniel Barenboim Musiker der Staatskapelle Berlin in Proben jahrelang gedemütigt, eingeschüchtert, zur Schau gestellt – oder waren diese Maßnahmen ein Mittel zum höheren künstlerischen Zweck? Hat er in der Berliner Staatsoper ein Klima der Angst verbreitet? Oder darf, wer einem Orchester seinen Künstlerwillen einimpfen will, cholerisch und verletzend sein? Jedenfalls haben sich dieser Tage mehrere Musiker nach jahrelangem Schweigen geoutet und Barenboims Verhalten angeprangert (wir berichteten). Seitdem tobt im Netz eine Schlacht um Führungsqualitäten von Dirigenten. Der Berliner Orchestervorstand hat seinem Chef das Vertrauen ausgesprochen.

Die Musikgeschichte kennt etliche despotische Pultstars; in der Abteilung „berühmt und berüchtigt“ fallen einem Arturo Toscanini, Sergiu Celibidache oder Karl Böhm ein. Zugleich gibt es zahllose Dirigenten, die penetrant und doch menschlich sein können; etwa Kirill Petrenko, künftiger Chef der Berliner Philharmoniker. Dirigenten sind keine besseren oder schlechteren Menschen als andere Chefs. Die Stinkstiefel, die nicht mal grüßen, gibt es ebenso wie die Dauerfreundlichen, deren Gelächle einen zur Weißglut bringt. Schwerer erträglich sind Attacken auf die Würde eines Menschen. Wer sich gegen Mobbing von oben wehrt, bekommt vielleicht Recht, aber auch einen Feind fürs Leben, der im ungünstigen Fall am längeren Hebel sitzt. Der Unterschied zwischen dem Firmenboss und dem Dirigenten liegt darin, dass das Versagen im Betrieb der Aufsichtsrat registriert und mit Sanktionen belegen kann. Das Publikum im Konzert merkt es meist nicht, wenn „da oben“ auf dem Podium weder Enthusiasmus noch Virtuosität herrschen – das spürt nur der Dirigent selbst. Wo aber sucht er die Schuld? Bei den Mitarbeitern.

Die Bewunderung eines angeblich Gottgleichen entspringt einer Berliner Andachtshaltung, die bei rationaler Betrachtung seiner Einspielungen nicht angebracht ist. Es gibt nämlich erstaunlich viele mittelmäßige Barenboim-Aufnahmen. Als Wagner-Dirigent etwa in Bayreuth hat er Bedeutendes geleistet, doch seine Berliner Beethoven-Sinfonien wirken teigig, sein Bruckner dröhnt nur. Auch auf dem Klavier viel Fragwürdiges: Vor einiger Zeit entledigte sich Barenboim in Düsseldorf einiger Schubert-Sonaten mit einer Lässigkeit, die groteske Spiel- und Gestaltungsfehler einschloss. Die Ämterfülle, die ihn zu Tänzen auf 1001 Hochzeiten zwingt, hat offenbar zur Verblendung geführt. Er begreift nicht, dass seine künstlerische Kompetenz der Vielzahl seiner Verpflichtungen nicht mehr standhält.

Lange hat die Branche von Barenboims Verhalten gewusst und geschwiegen, erst jetzt meldet sie sich. Wird es ihm gehen wie dem amerikanischen Dirigenten James Levine, von dem man immer munkelte, er habe kleine Jungen sehr gern? Kaum wurde die Sache öffentlich, war es um Levine geschehen. Da liegt der Fall Barenboim anders. Er hat eingeräumt, „temperamentvoll“ und „kein Lamm“ zu sein, er sei zum Gespräch bereit. Die Frage ist indes, ob Betroffene das Gespräch mit einem Mann, den sie für ihren Drangsalierer halten, suchen. Die Versicherung von Staatsopern-Intendant Matthias Schultz, „dass Konflikte, die es selbstverständlich auch an einem Opernhaus gibt, bewusst und konstruktiv angegangen“ würden, gibt Ahnungen Raum, was da in der Löwengrube vorgefallen sein muss.

Barenboim ist ein schätzenswerter Musiker, dem gewaltige Verdienste um die Völkerverständigung zu danken sind. Wenn es ihm gelänge, diese humanistische Einstellung auf Berlin-Mitte auszuweiten, wäre viel gewonnen. Der Künstler, jetzt angeschossen wie ein Platzhirsch, wird gewiss in nächster Zukunft sehr freundlich proben. Und es kann sein, dass Barenboims Aufführungen von seiner Läuterung sogar profitieren – weil Musiker ohne Angst besser spielen. Das können sich auch die Nicht-Berliner nur wünschen.

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