Theater Mit unserem Glück ist kein Staat zu machen

Saarbrücken · „Zauberland ist abgebrannt“: Sébastien Jacobis Text-Musik-Revue „Reise!Reiser!“ feierte in Saarbrückens Alter Feuerwache Premiere.

 Sébastien Jacobi mit Perücke & Kleid am Ende seiner Revue, die Karl Philipp Moritz’ Romanfigur Anton Reiser mit „Ton Steine Scherben“-Sänger Rio Reiser kurzschließt.

Sébastien Jacobi mit Perücke & Kleid am Ende seiner Revue, die Karl Philipp Moritz’ Romanfigur Anton Reiser mit „Ton Steine Scherben“-Sänger Rio Reiser kurzschließt.

Foto: Martin Kaufhold/SST/Martin Kaufhold

1968, da war er 18, nahm Deutschlands später bekanntester anarchistischer Sänger Ralph Möbius den Künstlernamen Rio Reiser an – in Anspielung auf Karl Philipp Moritz‘ 1786ff erschienenen Roman „Anton Reiser“ über einen empfindsamen Dilettanten und Lebenssinnsucher gleichen Namens. 1970, zwei Jahre danach, gründete Rio Reiser die Band „Ton Steine Scherben“, die mit Songs wie „Macht kaputt, was Euch kaputt macht. Wir streiken“ berühmt wurde und – ganz ’68 — eine Umwertung aller Werte propagierte. Sehr viel später wurde Reiser, nach dem Titel einer seiner Soloplatten, als „König von Deutschland“ milde, schrieb ambitionierte Liebeslieder und wurde auf dem Weg seiner Kommerzialisierung quasi verbürgerlicht.

Seine im Geist der Anarchie geborene Musikkarriere mochte sich entpolitisiert haben und ihr der Stachel der Rebellion gezogen worden sein – mit seinem Ahnherrn und Namensvetter Anton aber teilte Rio Reiser im Innersten das Randständige seiner Existenz: ein der Wahrheit verpflichtetes und am Zweifeln geschultes Künstlernaturell.

All das muss man wissen, um dem roten Faden von Sébastien Jacobis Text-Musik-Collage „Reise!Reiser!“ folgen zu können, die am Samstag in der Alten Feuerwache ihre (heftig beklatschte) Saarbrücker Premiere hatte. Die nicht die eigentliche war: Jacobi, seit dieser Spielzeit neu im SST-Schauspielensemble, brachte seinen Reiser-Abend bereits 2012  am Frankfurter Schauspiel auf die Bühne – und danach als Gastspiel an mehrere andere Bühnen. Seine politische Revue, bei der Jacobi nicht nur selbst die tragende (Erzähler- und Sänger-) Rolle übernimmt, sondern auch Regie führt und für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich zeichnet, verknüpft lose und indirekt beide Reiser-Biografien. Anders als Karl Philipp Moritz‘ sonderlinghafte Romanfigur, an deren wechselvollen Bildungsetappen sich der Abend kursorisch-grob anlehnt, bleibt Rio Reisers Vita zwar ausgespart. Doch setzt die Inszenierung dessen (von Jacobi selbst intonierte) Songs immer wieder ein, um uns das beiden gemeinsame Ungenügen an ihrer Zeit vor Augen zu führen.

„Reise! Reiser!“ ist weniger Bühnenadaption von Moritz’ aufklärerischem Entwicklungsroman denn ein das (damalige wie heutige) Scheitern an den Verhältnissen thematisierender szenisch-musikalischer Reigen. Antons Künstlertraum zerplatzt ebenso wie Rios Illusion einer klassenlosen Gesellschaft. Sofern wir diese 100 Theaterminuten als Schnellkurs in Sachen Selbstbesinnung nehmen, reift die Einsicht, dass auf dem weiten Feld des Glücks doch kein Staat zu machen ist, es vielmehr ein Privatgärtchen ist, in dem jeder sein eigener Gärtner bleibt. Wobei mit Rio Reiser gesprochen Liebe das Wort ist, „das die dunkelste Nacht erhellt“. Kein Wunder also, dass zum Ende hin Melancholie den Abend durchweht.

Danach sah es anfangs nicht aus. Da drohte Jacobis unbekümmert verspielte Text-, Lied- und Film-Materialschlacht fast auf Kasperle-Niveau abzurutschen. Und die Szenen zwischen Klamauk, Publikumsansprachen, Super-8-Filmgeknatter, A capella-Singsang und Stegreif-Anarchie unterzugehen. Während der vor Spiellaune sprühende Jacobi quasi die Bühne zu seinem Wohnzimmer machte, assistierten ihm dabei seine auch als Geräuschemacher glänzenden Partner Verena Bukal und Christoph Iacono (am Klavier ein Artist von atemberaubendem Tastentempo). Je mehr dann die neben den beiden Reiser-Fährten ausgelegte dritte Stückebene – eingeflochtene Textauszüge aus dem Manifest „Der kommende Aufstand“ von 2007, einer Generalabrechnung mit dem heutigen Kapitalismus – Raum gewinnt, desto mehr findet das Stück Erdung und Tiefe. Jacobi bläut einem die Armseligkeit unseres Entfremdetseins ein („Wir betreiben unser Ich wie einen geschäftigen Schalter. Wir sind die Vertreter unserer selbst“). Und zeigt doch, dass wir vor lauter political correctness und Angepasstheit („wir sind wahnsinnig zivilisiert, oder?“, so Bukal voller Häme) kein Talent mehr zur Auflehnung haben. Zuletzt singt Jacobi, in ein Kleid gezwängt, Rio Reisers „Zauberland ist abgebrannt“. Und auch die Kunst hat nichts, was uns vor Selbstbetrug schützt. Sagt doch der andere Reiser in Jacobi: „Schauspieler ist auch eine abgeschmackte Rolle.“

Und doch: Das letzte Wort hat per Video ein Kinderchor. Er singt Reisers „Der Traum ist aus“, in dessen Refrain es tröstlich heißt: „Aber ich werde alles geben/ dass er Wirklichkeit wird.“ Besser ist die Essenz dieses Abends kaum zu beschreiben.

 Verena Bukal und Christoph Iacono, zuständig für Text- und Musikeinlagen und dazu Geräuscheproduzenten vom Dienst.

Verena Bukal und Christoph Iacono, zuständig für Text- und Musikeinlagen und dazu Geräuscheproduzenten vom Dienst.

Foto: Martin Kaufhold/SST/Martin Kaufhold

Weitere Vorstellungen am 26. Oktober, 30. November, 6. und 17. Dezember.

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