Neue Bücher Die Kunst des sanften Staunens

Saarbrücken · Matthias Nawrat legt mit „Der traurige Gast“ einen hinreißenden Großstadtroman vor.

 Autor Matthias Nawrat.  Foto: Zucchi/dpa

Autor Matthias Nawrat. Foto: Zucchi/dpa

Foto: dpa/Uwe Zucchi

Berlin nach dem Terroranschlag von Weihnachten 2016 am Breitscheidplatz, direkt vor der Gedächtniskirche: Ein polnischstämmiger Schriftsteller läuft durch die Stadt, geschockt und in angespannter Haltung. Es ist, als läge nun für lange Zeit ein Bann auf seinem Leben. Es ist ungeheuerlich, wie eindringlich Matthias Nawrat (40) diese Wahrnehmungsempfindlichkeit beschreiben kann. Der Pole, der mit zehn Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland kam, setzt die richtigen Wörter und ist außerordentlich formbewusst. Sein Roman „Der traurige Gast“ ist große Literatur.

Der Erzähler, der irgendwo im Ostteil Berlins wohnt, wechselt auf „die andere Seite“, zum Südstern in Kreuzberg. In ein Feinkostgeschäft schaut er, in einem polnischen Lokal speist er, unterhält sich mit einem früheren Klavierstimmer. Es ist Sonntag, nach dem Gottesdienst in der von Polen besuchten Kirche strömt man herein, verspeist Pierogi. Nawrat hat das Milieu der Wirklichkeit abgeschaut, an jedem Sonntag passiert das so am Südstern. Seine Freundin und er wollen ihre Wohnung umbauen lassen, deshalb fährt der Erzähler zu einer polnischen Architektin. Sie wohnt im Bezirk Schöneberg, den sie nie verlässt. Sie fertigt Entwürfe für Bauten in Stadtteilen an, die sie nur von Fotos oder Grundrissen kennt. Vor 30 Jahren hatte sie sich verliebt, es quält sie noch. Wie der Völkermord in Galizien, wo sie geboren und ihr Vater von Deutschen exekutiert wurde. Sie wuchs im schlesischen Opole auf, dem Ort, aus dem Nawrat kommt. Was die Judenvernichtung bedeutet, weiß die Architektin genau: „Es ist unaushaltbar und nie mehr wiedergutzumachen.“

Der traurige Gast streift weiter durch Berlin, trifft auf Menschen, die ihm teilweise ihre Schicksale erzählen. Nawrat verfällt nie in falsches Pathos, sein Setting ist eine präzise beobachtete Stadt und ihre Bewohner. Ein Junge auf der Straße, ein Ex-Studienkollege, ein arabischstämmiger Nachbar, der sich über die Anhäufung von Unrat empört. In einem Literatursalon lernt er Eli aus Rumänien kennen, an einer Tankstelle trifft er auf Dariusz, der dort jobbt, aber eigentlich Chirurg ist. Er kann den Tod seines Sohnes nicht verwinden, besäuft sich. Existenzielle Notwendigkeiten durchziehen diesen Roman: Geschichten von Menschen, die sich zu orientieren versuchen – Berlin hat sie alle aufgenommen. Es ist Europas Transitraum zwischen Ost und West. Mit sanftem Staunen, fast Zärtlichkeit, nimmt der Erzähler das wahr.

Lakonisch ist das geschrieben, in einer intensiven Grundkonzeption, die dem Leben, wie es heute in einer Großstadt stattfindet, gerecht werden will. Es ist Winter, kalt, windig, ungemütlich. Der Erzähler betritt einen Supermarkt, glaubt eine Frau an der Kasse wiederzuerkennen, ist sich aber nicht sicher. Als er den Supermarkt verlässt, wird er „für einen Moment geblendet von dem grellen Himmel, der sich über die Kirche und den Friedhof auf der anderen Straßenseite spannte. Ich brauchte einen Moment, bis ich wieder wusste, wo ich war.“ Er steigt hinab zur U-Bahn, irritiert, orientierungslos, lässt sich treiben. Wir treiben mit ihm mit.

Das Buch beschreibt einen Zwischenbereich von Traum und Realität, unprätentiös, aber kunstvoll. Im Leben, das der Erzähler führt, gibt es keine Erlösung, aber es geht immer weiter. Wobei sich Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschieben, Zukunft spielt weniger eine Rolle. Man erlebt es als Leser selten, so verstanden zu werden. Matthias Nawrat hat die Leerstelle des Lebens erkannt, füllen kann er sie nicht.

Matthias Nawrat: Der traurige Gast. Rowohlt, 304 S., 22 €

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