Kartographie total

Metz · In einer inspirierenden, vielseitigen Themenausstellung erkundet das Metzer Kulturzentrum FRAC derzeit das künstlerische Potenzial von Landkarten.

Früher einmal hängten sich Menschen prachtvolle Weltkarten übers Wohnzimmerzimmersofa. Als Kind hielt man Landkarten für etwas Gegebenes, Unveränderliches, so wie die Landschaft ums Elternhaus herum. Doch dann kam erst die Entkolonialisierung und dann der Fall des Eisernen Vorhangs. Plötzlich entstanden ganz neue Länder. Es war erst der Anfang all der verblüffenden geopolitischen Veränderungen und Verwerfungen, die weiterhin vonstatten gehen. Auch von technologischer Seite geriet die Nützlichkeit und Beständigkeit von Karten unter Beschuss. Brauchen wir sie überhaupt noch oft, in Zeiten von Navigationsgeräten und GPS? Fest steht: Zum Pokémon-Jagen jedenfalls nicht.

In einer höchst inspirierten und inspirierenden Ausstellung macht derzeit der FRAC Lorraine in Metz Karten aller Art und das weite Feld der Kartographie zum Thema. "Sensible Zonen" nennt der Kunstfonds Lothringens, der sich von je her nach seinem GPS-Standort 49 Nord 6 Est bezeichnet, die Sommerschau - es ist die letzte, die die kluge, nach Grenoble wechselnde Direktorin Beatrice Josse noch geprägt hat. "Dekonstruieren, sagt sie!", nennt Josse ihren Abschiedsgruß unter Anspielung auf einen Buchtitel von Marguerite Duras und zeigt damit eine hintersinnig-politische Haltung gegenüber Forderungen nach Grenzziehungen, wie sie Populisten propagieren.

19 Künstler(innen) greifen in rund 30 Arbeiten, überwiegend aus der FRAC-Sammlung, das Motto spielerisch, konzeptuell und vielfältig schillernd auf. Während Katrin Ströbel etwa in ihrer Bodenmalerei wider den Eurozentrismus löckt und den Nordpol zum Mittelpunkt der Welt macht, treibt der Pariser Bernard Heidsieck (gest. 2014) in "Vaduz, n°044: The Walloons" den Eurozentrismus auf die Spitze. In seiner gewöhnlichen Weltkarte macht er die Hauptstadt Lichtensteins zum Nabel der Welt, umgeben jedoch nicht von Ländern, sondern von aufgeklebten Völkernamen (ob Lothringer, Elsässer, Ligurer, Slowenen oder "Eskimos").

Marco Gorinhos imaginäre Wandkarte kennt gar keine Grenzen. Der in Luxemburg lebende Portugiese bediente sich eines Stempels mit dem Aufdruck "Forever Imigrant", um eine Weltkarte zu konstruieren, die eine Welt umreißt, die aus Migrationsströmen entsteht. Yoko Ono wiederum dreht die Funktion von Karten, Orientierung zu bieten, um. Mit ihre Postkarte "Map to get lost" von 1964 ermuntert sie, sich eine eigene Fantasie-Karte zu zeichnen, um "sich zu verlieren". Ein Appell, dem zahlreiche Besucher mit den bereitliegenden Papieren und Filzstiften bereits nachgekommen sind. Andere Künstler zerschnippelten Landkarten, um sie als aufgerollte Streifen für eine "Nomadic World" ( Godinho) zum Mitnehmen bereitzustellen oder um sie als neuen "Horizont" (Mona Vatamanu) rund um den Ausstellungsraum zu kleben. Nipan Ornniwesna (Thailand) benutzte ordinäre Welt-Stadtpläne gleich zweifach: Er schnitt die Wege- und Flussnetze nicht nur wie Gerippe aus und legte sie derart zu vielschichtigen Städten übereinander, dass einem schwindelig wird. Er nutzte sie auch als Schablonen, um eine riesige, geisterhafte Gesamtstadt aus Talkumpuder auszustreuen, die nur anhand der Flussläufe alte Bekannte wie Paris und London identifizieren lässt. Franck Scurit wiederum kerbt einen imaginären Stadtplan in Schuhsohlen und gibt so dem Begriff der "Street Credibility" eine neue Wendung.

Was sollen Karten überhaupt abbilden? Die Schweizerin Justine Blau stickt für ihren "Atlas" die Oberfläche ihrer Haut nach. Neal Beggs schwarze "Starmaps" mit weißen Punkten scheinen hingegen nur Sterne zu zeigen. In Wirklichkeit sind es im physikalisch-geografischen Sinne Höhepunkte von Metz. Auch wenn internet-gestützte, dynamische Karten erstaunlicherweise ganz fehlen, so blättert die Schau doch ein breites Spektrum an Umgangs- und Umkehrformen mit Karten jeglicher Art auf und macht deutlich: Keine Karte ist objektiv.

Bis 23. Oktober. Di bis Fr: 14 bis 19 Uhr, Sa/So: 11 bis 19 Uhr.

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