„Couples Modernes“: Die künstlerische Avantgarde im Metzer Centre Pompidou In Metz: 900 Werke von 40 Paaren

Metz · Erneut zeigt das Metzer Centre Pompidou, weshalb es in der Großregion ein Garant für fundierte wie anregende Ausstellungsprojekte ist. Die neue Schau „Couples modernes“ (Moderne Paare) vergegenwärtigt die avantgardistische Ära von 1900 bis 1950 in Europa.

 Fotogramm von Claude Cahun, das André Breton und Jacqueline Lamba in mehrfacher Reflexion zeigt (1935, Ausschnitt).

Fotogramm von Claude Cahun, das André Breton und Jacqueline Lamba in mehrfacher Reflexion zeigt (1935, Ausschnitt).

Foto: © Jersey Heritage, Jersey/Centre Pompidou, Metz/© Jersey Heritage, Jersey

Dadaismus, Futurismus, Wiener Secession, Bauhaus, Surrealismus, Kubismus, Neue Sachlichkeit, sozialistischer Realismus: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überschlugen sich die künstlerischen Stilformen im Zeichen einer bis dahin nicht gekannten Experimentierfreudigkeit. Je mehr seit der Jahrhundertwende (begleitet vom Aufkommen sozialer Utopien, Arbeiter- und Frauenbewegung, Psychoanalyse und Industrialisierung) die alten Gewissheiten und Ordnungen zerstoben und Europa in zwei Weltkriegen zerrieben wurde, desto mehr geriet damals auch die moderne Kunst in Bewegung. Die einsetzende gesellschaftliche Individualisierung entfachte eine künstlerisch Sogwirkung, die bis heute ihresgleichen sucht.

Wenn es innerhalb der extrem unterschiedlichen künstlerischen Manifestationen der Jahre 1900 bis 1950 denn einen roten Faden gibt, dann ist es die Verknüpfnung von Kunst und Leben. Hier setzt die Schau „Couples Modernes“ im Metzer Centre Pompidou an, die die erste Jahrhunderthälfte entlang markanter Künstlerpaare nachzeichnet. Ziel ist es, damit außer den einzelnen Kunstströmungen zugleich auch deren jeweiliges sozialrevolutionäres Potenzial abzubilden. Dies gelingt über weite Strecken ganz formidabel.

Die über zwei Etagen in unglaublicher Üppigkeit ausgebreitete Ausstellung zeichnet aus, dass sie nicht allein die üblichen Verdächtigen der Avantgarde aufbietet, sondern auch viele Künstler in Erinnerung ruft, die heute zu Unrecht weithin vergessen sind. Zugute kommt ihr dabei, dass sie den Ausdruckshorizont weit fasst und neben Malerei und Fotografie Architektur, Grafik, Tanz oder Mode- und Produktdesign berücksichtigt.

Gleich zum Auftakt etwa stößt man auf eine der Klimt-Musen, die zu Zeiten der Wiener Secession als Modedesignerin bekannt gewordene Emilie Flöge. Mit ihrer Schwester kultivierte sie kurz einen einflussreichen Modesalon, der die Ästhetik der Wiener Werkstätten – am Beispiel ihrer wichtigsten kreativen Köpfe Kolomon Moser und Josef Hoffmann wird auf sie gleichfalls Bezug genommen – in eigenwilligen (korsettlosen) Kleiderentwürfen einlöste. Was die Schau Mal um Mal vorführt, ist das sich mit der Avantgarde Bahn brechende Bedürfnis einer Verschmelzung von Kunst und Leben. Einer der Gründe, weshalb viele der von den Kuratoren ausgegrabenen Künstlerpaare einen dezidiert antibürgerlichen Lebensstil zelebrierten – worauf die durchgängig zweisprachigen Überblickstexte immer wieder eingehen. Nicht nur, dass die versammelten Künstlerpaare Lebensräume entwarfen, die Gesamtkunstwerken glichen (von der Architektur über das Mobiliar bis zur Farbgebung).

Ihr stilistischer Freiheitsdrang und Gestaltungswille machte auch vor dem Ausprobieren alternativer Lebensformen nicht Halt. Ob freie Liebe, Homo- und Bisexualität oder ein Kommunardenleben: Vieles, was wir heute mit der 68er-Bewegung verbinden, hatte seine Vorläufer in der Zeit der aufgeheizten ersten Jahrhunderthälfte, in der – jedenfalls in exaltierten Künstlerkreisen – damals bereits vielfach die Fesseln der Konvention abgeworfen wurden. Einer der Gründe, weshalb manche dieser Beziehungen tragische, bisweilen tödliche Wendungen nahmen.

Ein Befund der Metzer Schau ist, dass die Kunst der Avantgarde in erster Linie eine von Männern war. Es ist kein Zufall, dass einem meist nur diese ein Begriff sind. So heißt es in einer dem Bauhaus gewidmeten Ausstellungsstation, dass Frauen zu vielen Bauhaus-Werkstätten seinerzeit keinen Zugang hatten, sodass Josef Albers’ Gefährtin Annelise Fleischmann dort etwa in die Weberei ausweichen musste. Das ändert nichts daran, dass die von beiden gezeigten, Geometrie mit Innerlichkeit paarenden Werke zu den Metzer Höhepunkten gehören.

Ähnliches gilt für die (oft gemeinsam entstandenen) transparenten Fotogramme des Bauhäuslers László Moholy-Nagy und seiner Frau Lucia: Zeitlebens stand sie in seinem Schatten. Ähnlich erging es Ray Eames, deren Beitrag zum Erfolg des (in Metz nicht fehlenden) legendären „Eames Office“ lange übersehen wurde: Man verband ihn in erster Linie mit ihrem Mann Charles. Wenige Meter weiter dieselbe Geschlechterungerechtigkeit: Zugunsten ihres Mannes Alvar Aalto, einem der Pioniere des organischen nordischen Möbeldesigns, ist es bis heute kaum mit seiner Frau Aino Marsio verbunden, obwohl sie an den Entwürfen mitwirkte. Generell dürfte die Selbstherrlichkeit der männlichen Künstler diese geschlechtsspezifisch einseitigen Wirkungsgeschichten erklären.

Weitere Stationen sind etwa der britischen Arts-and-Craft-Bewegung (mit berückenden Werken von Vanessa Bell), der symbiotischen Beziehung von Robert & Sonia Delaunay und Hans Arp & Sophie Taeuber oder der im Zeichen des Konstruktivismus stehenden Paarenergie von Alexander Rodtschenko & Warwara Stepanowa gewidmet. Überhaupt zeichnet es die Metzer Schau aus, dass sie nicht nur Westeuropa im Blick hat, sondern auch  bemerkenswerte künstlerische Prozesse im Osten würdigt, insbesondere in Russland.

Erwähnenswert ist hier nicht zuletzt die dem italienischen Futurismus Marinettis nahestehende Rayonismus-Bewegung, die – wie man in Metz erfährt – in Moskau auch als (öffentliche Rollenspiele vollführende) Aktionskunst von sich reden machte und mit ihrem Manifest „Warum wir uns anmalen“ von 1913 zu den Vorläufern europäischer Performancekunst zählt. Mehrere Kabinetträume sind ferner der auch 100 Jahre nach ihrem Ende immer noch kolossal originellen Dada-Bewegung gewidmet. Hannah Höchs begnadete Collagen ragen hier heraus.

Wenn sich an der opulenten Schau etwas kritisieren lässt, dann ihre ausufernde Fülle, die einem irgendwann die Sinne zu benebeln beginnt. Hinzu kommt, dass die Verzahnung der zahllosen in Metz gestreiften Paare im Detail nicht immer nachvollziehbar wird. Etwa in der dem surrealistischen Vordenker André Breton (und seinem Künstlerharem) gewidmeten Ausstellungstation oder mit Blick auf die pars pro toto für Marcel Duchamps zahllose künstlerische Diven stehende brasilianische Bildhauerin Maria Martins. Um als Besucher von „Couples Modernes“ nicht in einem Bombardement ästhetischer Affekte zu verenden, bleibt einem nur Selbstbegrenzung: Weniger ist mehr. Entdeckungen lassen sich zuhauf machen – ob die famose Porträtmalerin Romaine Brooks, die radikale Lebenskünstlerin Lucy Schwob (alias Claude Cahun) oder der Landschaftsmaler Paul Nash.

 Hannah Höchs Collage „Für ein Fest gemacht“ (1936).

Hannah Höchs Collage „Für ein Fest gemacht“ (1936).

Foto: Berlinische Galerie/Centre Pompidou/Metz
 Max Ernsts 1940 entstandenes, surrealistisches  Gemälde „La Toilette de la mariée“.

Max Ernsts 1940 entstandenes, surrealistisches  Gemälde „La Toilette de la mariée“.

Foto: Peggy Guggenheim Collection, Venice Solomon R. Guggenheim Foundation, New York © ADAGP, Paris 2018 Photograph by David Heald/David Heald

Bis 20. August. Mo, Mi und Do: 10 bis 18 Uhr; Fr, Sa und So: 10 bis 19 Uhr.

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