Kolumne Nostalgie Odysseus, der Flohmarkt und der Plattenspieler

Früher war vermeintlich alles besser. Oder doch nicht? Beim Rückblick auf die 70er, 80er und 90er werden SZ-Redakteure „nostalgisch“. Heute wegen alter Hörspiel-Schallplatten.

Beim Flohmarkt, da sah ich ihn nach langer Zeit mal wieder. Er mich aber  nicht, schließlich war er jener Zyklop, dessen mangelnde Gastfreundschaft Odysseus ein Dorn im Auge war. Das des Zyklopen stach er deshalb aus. Jedenfalls prangte jener Polyphem auf der Plattenhülle von „Die Irrfahrten des Odysseus“ in einer Flohmarktkiste: Ein betagtes Hörspiel aus dem Hause „Europa“ war das, einer Firma, die vor allem in den 70er Jahren so manche Kinder- und Jugendzimmer abenteuerlich beschallte.

Firmen wie Europa, Poly, Disney oder Telefunken entführten mit klassischer Literatur, mit Sagen,  Krimis und Utopischem an mehr oder weniger ferne Orte. Im Abenteuer „Schmuggel im Hafen“ hörte man Hamburger Brackwasser an Steinmauern platschen, mit Jules Verne trat man „Eine Reise auf dem Kometen Gallia“ an. Manche Vinyl-Alben bannten neben den Ohren auch die Augen, mit Bilderbüchern: Der viel- und spitzzahnige Schlund des Kraken in „20 000 Meilen unter dem Meer“ ist eine unauslöschlich gruselige  Kindheitserinnerung (und das auf einem Disney-Album!).

Frischt man diese Erinnerungen heute auf, muss man sich manchmal am Kopf kratzen. Etwa wenn sich Raumfahrer Tex Terry in „Raumschiff UX 3 antwortet nicht“ über seine Astronauten-Kollegin  antifeministisch so äußert (mit der Stimme von Hans Clarin): „Cora war OK, sie war für uns keine Belastung.“ Als Kind ist mir der Satz nicht besonders aufgefallen oder aufgestoßen. Andere antike Werke kann man heute noch mehr schätzen: Das Perry-Rhodan-Hörspiel „Planet des Todes“ etwa aus den frühen 80er Jahren ist von zeitloser Öko-Botschaft: Da wehrt sich ein Himmelskörper mit allem was er hat (Viren, Stürme, wilde Tiere) gegen die gedankenlose Besiedlung durch Erdlinge. Und die „Irrfahrten des Odysseus“ sind heute eine nostalgische Freude, deklamieren die Helden ihre Sätze doch mit dem Inbrunst klassischer Theatermimen, deren Schallwellen noch die hintersten Ränge sicher erreichen sollen:  Bei „Kommt, Freunde!“ (Odysseus) oder „Elende Menschenbrut!!“ (Polyphem) zittert der Lautsprecher, ein Wunder, dass damals nicht die Nadel des wackeren Dual-Plattenspielers aus der Rille gehüpft ist — zumal die Produzenten das Knochenknacken der vom Zyklop gefressenen Griechen mit fast schon liebevoller Grausamkeit auf Vinyl  pressten.

Etwas ganz anderes fällt ebenfalls auf bei diesen Wiederbegegnungen: Man hört als Erwachsener anders zu, oberflächlicher, flüchtiger. Die wohlige kindliche Selbstvergessenheit, das komplette Versinken in eine Fantasiewelt fällt schwer. Zu knapp ist die Zeit, zu laut dröhnt der Erwachsenen-Alltag durch die Ohren.Ein wenig wie der Gesang der Sirenen bei Odysseus, aber kaum verlockend.

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