Neue Webseite Erinnerungen für eine Generation ohne Zeitzeugen

Saarbrücken · In Saarbrücken diskutierten Praktiker und Wissenschaftler, wie sich eine Erinnerungskultur zur NS-Zeit lebendig halten lässt.

Die aktuelle Aufregung um die Echo-Verleihung an die Rapper Kollegah und Farid Bang offenbart auch eine Kluft zwischen den Generationen: Wenn Erwachsene die Zeile „Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen“ hören, sind sie entsetzt, angewidert, fassungslos. Viele Jugendliche, die die „Punchlines“ der Rapper „feiern“, hören über solche Inhalte jedoch einfach hinweg. Das lässt manche rätseln, wie sich die Jugend für die Geschichte des NS-Terrors sensibilisieren lässt und die Erinnerung daran für nachkommende Generationen lebendig gehalten werden kann. Das EU-Interreg-Projekt „Land of memory“, das Gedenkstätten und Erinnerungsorte im Saarland und der Großregion zusammenfasst, versucht es mit einer Webseite. Gestern stellten die Entwickler einen Prototyp des Modells im Saarbrücker Schloss vor.

„Das Ganze soll zeitgemäß erscheinen. Junge Leute finden sich auf solchen Seiten schnell zurecht und können leicht Neues entdecken“, erläuterte Anja Heidenreich von der Saarbrücker Agentur Bureau Stabil, die mit der technischen Umsetzung der Webseite betraut war. Der Prototyp sei weitgehend fertig, er müsse nur noch mit Inhalten befüllt werden. Nach den Sommerferien soll die zugehörige Adresse freigeschaltet werden. Dann können Nutzer über eine interaktive Landkarte Informationen über Museen, Gedenkstätten, Erinnerungswege, Denkmäler und historische Orte zur NS-Zeit in der Großregion aus dem Internet abrufen.

Dass multimediale Präsentationsformen immer wichtiger werden, darüber waren sich die Teilnehmer einer anschließenden Diskussionsrunde, die sich mit dem Verhältnis von Kunst und Erinnerung befasste, einig. Doch die Möglichkeiten der Digitaltechnik stoßen nicht bei jedem auf Begeisterung. Frédérique Neau-Dufour, Direktorin der KZ-Gedenkstätte im elsässischen Natzweiler-Struthof, bekannte, dass ihr die Vorstellung von Jugendlichen, die sich per Smartphone-App durch die Orte des Schreckens bewegen, Unbehagen bereitet. „Die Besucher des Lagers sollen die Luft atmen, die Atmosphäre spüren, an die Opfer denken. Das wird durch einen Bildschirm gestört.“ Trotzdem arbeite auch ihre Gedenkstätte an einer App, die die Besucher durch das Gelände führen soll. Denn an dieser Art der Vermittlung käme in einer Welt der digitalen Bilder und Informationen niemand mehr vorbei. „Es ist traurig, wenn Jugendliche durch das Lager gehen und am Ende nichts gelernt haben. Das ist leider immer wieder vorgekommen“, so Neau-Dufour. Darum habe sie nachgegeben und dem Einsatz der Technik zugestimmt.

Was die Situation der jungen Generation kennzeichne, sei ein Überangebot an digitalen Bildern und Dokumenten bei gleichzeitigem Verschwinden lebender Zeitzeugen als Dialogpartner, diagnostizierte der Kulturwissenschaftler Sébastien Fevry von der belgischen Universität UC Louvain. Er skizzierte in einem Vortrag das Subjekt des „Postmemory“, das keine eigenen Erinnerungen an vergangenes Leid habe und sich angesichts „erinnerungsloser Bilder“ im Internet neue Wege der Aneignung der Vergangenheit eröffnen müsse. Dabei kämen Kunst und Fantasie eine entscheidende Rolle zu. Durch sie würden Leerstellen ausgefüllt und eine eigene Ordnung hergestellt. Wenn das gelinge, ereigne sich das „Wunder des Wiedererkennens“ (Paul Ricoeur), das Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart lebendig machen und so gegen das Vergessen ankämpfen könne.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort