Literatur Ein Leben im Zwischenraum, ein lebenslanges Versteck

Saarbrücken · Christophe Boltanski erzählt von seiner jüdischen Familie.

 Christophe Boltanski

Christophe Boltanski

Foto: Hanser

Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, wäre die Großmutter nicht an Kinderlähmung erkrankt. Weil sie glaubte, daher nicht emigrieren zu können, als die Deutschen in Paris einmarschieren. Im Juni 1942 gehört sie zu den ersten, die sich das gelbe Stück Stoff abholen, aus dem sie einen Judenstern ausschneiden muss. Auf dem Rückweg bricht sie zusammen. Eine Passantin, die den Stoff in ihren Händen und die Tränen sieht, sagt zu ihr: „Von jetzt an können wir unsere wahren Freunde erkennen!“

Seit 1941 werden auch in Paris Juden verhaftet. Immer kleiner wird die Welt. Bis der Großvater sich in seiner Wohnung in der Rue-de-Grenelle in einem verborgenen Zwischenraum versteckt. 1,20 Meter hoch und 1 Meter breit. Er wird das Versteck nie wieder verlassen. Auch nicht als die deutschen Besatzer weg sind. Er lebt in ständiger Angst. „Überall, wo er war, baute er sein Gefängnis um sich herum“, schreibt Christophe Boltanski in seinem Romandebüt „Das Versteck“, in dem er die Geschichte seiner jüdischen Familie erzählt.

Boltanski, Sohn des Soziologen Luc und Neffe des Künstlers Christian Boltanski, beschreibt das Haus seiner Großeltern, in dem er aufwuchs, Raum für Raum – die Zimmer evozieren Kindheitserinnerungen. Als kleiner Junge sind ihm die Großeltern, diese „schwächlichen, verwundbaren Geschöpfe“, ein wenig peinlich. Auch nach dem Krieg verlassen sie selten ihre Wohnung. Umso mehr versuchen sie die Kinder und Kindeskinder an sich zu fesseln. „Meine Familie lebte nicht zurückgezogen, sondern zusammengeschweißt“, schreibt Boltanski. Der „Zwischenraum“ wird zu einer Lebensweise. Die Urgroßmutter floh einst aus Odessa nach Frankreich. Blieb dort aber zeitlebens eine Fremde. Die ganze Hoffnung setzte sie in ihren Sohn. Er studiert Medizin. Zweitbester in der schriftlichen Prüfung ist er. Trotzdem rät der Chefarzt ihm ab, sich für die mündliche anzumelden: „Sie werden nicht genommen. Wir haben letztes Jahr schon einen Juden berufen.“

Boltanski, seit 2017 Chefredakteur der Zeitschrift XXI, bricht die Grausamkeiten der Geschichte auf die eigene Familie herab. Er schreibt ohne Pathos. Mit wenigen Strichen zeichnet er lebensechte Figuren. Natürlich lassen die Kinder sich nicht für immer vereinnahmen. Alle finden zuletzt einen Weg aus der Enge der großelterlichen Umklammerung.

Christophe Boltanski: Das Versteck. A.d. Frz. von Tobias Scheffel. Hanser, 320 Seiten, 23 €.

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