Nachrufe Ein entwurzelter Weltbürger

London · Im Alter von 85 Jahren ist V.S.Naipaul, der aus Trinidad stammte und seit 1950 in England lebte, gestorben. 2001 hatte er den Literaturnobelpreis erhalten.

 Naipaul 2001 in seiner britischen Wahlheimat Salisbury.

Naipaul 2001 in seiner britischen Wahlheimat Salisbury.

Foto: dpa/Chris Ison

(dpa) V.S. Naipual hatte einen doppelten Migrationshintergrund: Mit 18 zog er ins ferne England und sagte seinen Eltern auf Trinidad Lebewohl. Deren Vorfahren waren aus Indien auf die Karibikinsel gekommen. Brite, Inder, Karibe – die Erfahrung, verschiedenen Kulturen anzugehören und in keiner ganz zuhause zu sein, prägte das Schaffen des Literaturnobelpreisträgers, der am Samstag mit 85 Jahren, wie es heißt, friedlich im Kreis seiner Familie in London entschlafen ist.

 Geboren wurde Vidiadhar Surajprasad Naipaul 1932 in Chaguanas, eine halbe Autostunde südlich von Trinidads Hauptstadt Port of Spain. Die Gegend dort wirkt mit ihren Hindutempeln und Moscheen wie ein Stück Asien in der Karibik – Spuren der Einwanderer, die die britischen Kolonialherren im 19. Jahrhundert als Arbeiter vom indischen Subkontinent nach Westindien holten. Naipauls imposantes Geburtshaus steht noch. Das „Lion House“ war einer der Schauplätze seines wohl bekanntesten Romans „Ein Haus für Mr. Biswas“ (1961, dt. 1981), hinter dem sich der früh verstorbene Vater des Autors verbarg. Unter großen Mühen war es ihm gelungen, vom bettelarmen Dörfler zum Journalisten in der Hauptstadt aufzusteigen, sich vom übermächtigen Clan der Schwiegereltern in Chaguanas zu lösen und ein Haus in Port of Spain zu kaufen. Ein eigenes Haus – das hieß für den Vater, „einen Anspruch auf seinen Teil der Erde geltend zu machen.“

 Den Sohn trieb es in die Ferne. Ein Stipendium ermöglichte ihm 1950 ein Studium in Oxford. Obwohl er unter Heimweh und englischem Essen litt, war Naipaul fest entschlossen, nicht auf sein tropisches Eiland zurückzukehren. „Ich würde geistig völlig verkümmern“, schrieb er seinem Vater. Trinidad, das waren für ihn Unterentwicklung und Perspektivlosigkeit, Großbritannien dagegen Bildung und Zivilisation. Nach einigen Jahren als Journalist für britische Medien begann Naipaul, Romane zu schreiben. Die ersten spielten noch auf Trinidad. Später erkundete er Afrika, Asien und Lateinamerika und verarbeitete seine Eindrücke in Romanen, Reportagen und Essays. In „Land der Finsternis“ (1964, dt. 1997) analysierte er kritisch die Verhältnisse in Indien, Land seiner Vorfahren. In „Eine Islamische Reise“ (1981, dt. 1982) wurde er zum Islamkritiker. In „An der Biegung des großen Flusses“ (1979, dt. 1980) beschrieb er Chaos und Gewaltherrschaft in den unabhängig gewordenen Staaten Afrikas und in seiner Romanbiografie „Das Rätsel der Ankunft“ (1987) sein Leben zwischen den Kontinenten.

 Naipauls Stärken waren seine klare, schnörkellose Sprache, sein Recherchefleiß und seine Fähigkeit, genau zu beobachten. Er wurde von Königin Elizabeth II. zum Ritter geschlagen, 2001 erhielt er den Literaturnobelpreis. Kritiker warfen ihm neben Arroganz und Ruppigkeit vor, die Welt vor allem aus dem Blickwinkel der Kolonialherren zu betrachten. Er konterte, er wolle keiner romantischen Idealisierung der Länder des Südens das Wort reden. Diese seien für ihre Armut und Unterentwicklung großteils selbst verantwortlich. Muslime empörte er mit der Aussage, der Islam habe in nichtarabischen Ländern wie Indien mehr Schaden angerichtet als der Kolonialismus.

In der von Naipaul autorisierten, 2008 erschienenen Biografie des britischen Literaturwissenschaftlers Patrick French „The world is what it is“ las man teils wenig Schmeichelhaftes über ihn. So soll er seine erste Ehefrau Patricia Hale, die 1996 an Krebs starb, jahrzehntelang vernachlässigt, demütigt und betrogen haben. Naipaul gestand eine Mitschuld an ihrem Tod ein. In seinem Spätwerk behandelte der entwurzelte Weltbürger in „Ein halbes Leben“ (2001, dt. 2003) oder „Magische Saat“ (2004, dt. 2005) wieder die Fragen von Identität und Heimatlosigkeit. Nach seinem letzten, 2010 erschienenen Buch „Afrikanisches Maskenspiel“ (dt. 2011) soll er noch an einem neuem gearbeitet haben, das nun womöglich posthum erscheinen wird.

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