Lesung in Saarbrücken „Das Dorf, das wir alle in uns tragen“

Saarbrücken · Die Schriftstellerin Dörte Hansen, deren Buch „Das alte Land“ ein Bestseller war, liest morgen in Saarbrücken aus ihrem neuen Roman „Mittagsstunde“.

     Die Autorin Dörte Hansen (54), die mit „Mittagsstunde“ ihr zweites Buch vorlegt.

Die Autorin Dörte Hansen (54), die mit „Mittagsstunde“ ihr zweites Buch vorlegt.

Ingwer Feddersen ließ in den 1960er Jahren sein friesisches Dorf Brinkebüll hinter sich, jetzt ist er in Kiel Hochschullehrer. Ihm steht ein Sabbatjahr zu, er besucht seine Großeltern im Heimatdorf. Sönke, der als Kleinbauer die Gastwirt­schaft in Brinkebüll betrieb, und seine Frau Ella sind mittlerweile pflegebedürftig. Ingwer verdankt ihnen viel: Die beiden haben ihn großgezogen. Seine Mutter Marret, die Tochter der Alten, hatte ihn geboren, als sie 17 war – nach einer kurzen Affäre mit einem Landvermesser, der sich bald darauf verdrückte. Ingwer wuchs „vaterlos“ auf. Die bigotten Bewohner im Kaff zerrissen sich das Maul über das Schicksal des Kindes und seine „verdrehte“ Mutter.

Die Schriftstellerin Dörte Hansen, 54, in Husum geboren, bleibt sich treu. Bereits in ihrem Debütroman „Altes Land“ (2015) ließ sie eine alleinerziehende Mutter aus Hamburg aufs Land flüchten. Dort muss sie sich mit ihrer problematischen Familiengeschichte auseinandersetzen. Die promovierte Linguistin Hansen hatte zuvor als Journalistin gearbeitet, inzwischen lebt sie selbst mit der Familie auf dem Land.

Im neuen Roman „Mittagsstunde“, den sie morgen in Saarbrücken vorstellt, ist es ein Mann im fortgeschrittenen Alter, der mit seiner Vergangenheit, in Rückblenden geschildert, konfrontiert wird und darüber seinen eigenen Platz im Leben findet. Er kennt noch die alte bäuerliche Welt, die der Strukturwandel der Agrarindustrie überwalzt hat. Der Roman hat es bereits auf den ersten Platz in der „Spiegel“-Bestsellerliste gebracht. Das hat mit dem Thema Land, mit den verlorenen Dörfern und auch mit der Nachkriegszeit zu tun. Das Buch hat einen traurigen Grundton, der Gefühle weckt, vorrangig Verlustschmerz. Da geht es um „das Dorf, das wir alle in uns tragen“. Dem Hansen-Sound gelingt es, das ländliche Milieu in seinen melancholischen, aber auch komischen Aspekten darzustellen. Unpathetisch, aber liebevoll. Mit Figuren, die zwischen Tradition und Modernisierung mit dem Alltag zurechtkommen müssen wie mit den übers flache Land fegenden Stürmen.

Im Straßendorf geschieht seit Jahrzehnten Ungeheuerliches. Die Dorf­eiche wurde gefällt, die Straße geteert und der Tante-Emma-Laden geschlossen. Es wird gerodet und begradigt, um aus Äckern riesige Felder zu machen. Aus Sicht der Menschen geschieht die „Flurbereinigung“ zu unrecht. „Die Flur bereinigen, als wäre sie verdreckt, als wäre sie ein Fehler oder eine Schuld“, heißt es. Diese Vorgänge betreffen Ingwer auch persönlich. Der Mann ist stadtmüde, seine Beziehung ist nach einem Vierteljahrhundert schal geworden, sein Liebesleben erlebt er nur noch „berauschend wie ein Spieleabend im Seniorenheim“.

Hansen lässt das Dorfleben von einst aufleben. In der Gastwirtschaft der Großeltern wird neben viel Bier auch jede Menge Korn gekippt, Kinder stürzen mit dem Fahrrad, und die Besitzerin des Ladens ordert kein Schokoeis, bevor nicht das Erdbeereis ausverkauft ist. Der Lehrer ist cholerisch, der Pastor scheitert an der Schroffheit der Dörfler, die seine Predigten über sich ergehen lassen. In lakonischer Sprache wird diese akribische Milieustudie erzählt. Darin ist aber auch viel Ironie, ohne dass die Figuren lächerlich gemacht werden. Manche Dialoge sind auf Platt gedruckt. Ein  sympathisches, unromantisches Buch. Dörte Hansen hat ihr Thema gefunden – und die Leser danken es ihr.

Dörte Hansen: Mittagsstunde.
Penguin, 320 Seiten, 22 €.
Lesung: Morgen, 19.30 Uhr, Bock & Seip (Futterstr. 2). Die Lesung ist ausverkauft.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort