Die Welt, „voll von schön gewesenen Frauen“

Saarbrücken · Büchner-Preisträger Arnold Stadler erzählt in seinem neuen Roman „Rauschzeit“ von Sehnsucht, Seitensprüngen und einer Liebe, die langsam in die Jahre gekommen ist. Dabei lässt der sprachverliebte Autor wieder den typischen, wunderbaren Stadler-Sound erklingen.

 Arnold Stadler, der hintersinnige Sprachdrechsler. Foto: Jürgen Bauer

Arnold Stadler, der hintersinnige Sprachdrechsler. Foto: Jürgen Bauer

Foto: Jürgen Bauer

Alain heißt er, weil bei Arnold Stadler alle Namen sprechen. Alain klingt nach allein. Und das ist er auch. Allein ist er zu einem Übersetzerkongress nach Köln gefahren, "allein mit meinem Sperma und meiner Sehnsucht". Allein hockt er auf einer Parkbank auf der falschen Seite der Stadt und sinniert seinem Leben hinterher. Genau genommen war der heute 40-Jährige von allem Anfang an allein - als für seine Geschwister deutlich zu junger Bruder und letzter Schuss eines aus der Fremdenlegion an die französische Atlantikküste heimgekehrten Vaters, der nicht mehr zusammenfindet mit seiner schöngeistigen Frau.

Dieses bestenfalls parallele Nebeneinanderleben bestimmt nun auch seine Ehe mit Mausi. Seit 15 Jahren sind sie verheiratet. In zwei durch eine Binnentür verbundenen Wohnungen mit getrennten Schlafzimmern leben sie im Berlin-Schöneberg des Jahres 3 der Wowereit-Ära, die sich als "sexy" zu definieren versucht. Der Rang von Köchen und Friseuren übersteigt inzwischen den von Philosophen und Dichtern, allenthalben herrscht gandenloser Darwinismus. Mit seiner "Antikampfgeistexistenz" und den grauer werdenden Haaren rutscht Alain zwangsläufig an den Rand. Wer freundlich ist wie er, gilt als provinziell. Wer die Zigarren liebt, gerät ins Fadenkreuz schrecklicher Nichtraucherinnen. Nicht die besten Zeiten für so einen promovierten Tagträumer.

Gute Zeiten aber für Arnold Stadler, den Büchner-Preisträger 1999, der vorbei an aller Erzähl-Ökonomie so wunderbar um die Ecke denken kann. Sprachverliebt lauscht er dabei den Worten nach, dreht und wendet sie, variiert sie in immer neuen Formulierungen, die er zum Klingen bringt, bis sie eine quasimusikalische Qualität erreichen. Aus diesem Stadler-Sound, der sich Zeit nimmt und eben darum beim Lesen welche schenkt, entwickelt sich gemächlich die überschaubare Handlung. Wenn er seinem Alain "das absolute Gehör für das Leben" bescheinigt, ist dies die treffende Definition für diesen höchstens mit Adalbert Stifter oder Thomas Bernhard vergleichbaren Dichter. So geht er an gegen die "stillschweigende Voraussetzung unseres Lebens, dass wir es lieber nicht so genau wussten".

Alain und Mausi sind jeder für sich an diesem 25. und 26. Juni 2004, er in Köln, sie in Berlin. An beiden dekliniert Stadler die für sein Schreiben zentralen Begriffe Sehnsucht, Glück und Liebe erneut durch und setzt sie in die Kontinuität seines Werks, indem er alte Formeln in diesen neuen Kontext bringt. "Die Zukunft war damals meine Sehnsucht, wie nun die Vergangenheit meine Heimat ist", heißt es und dass die Liebe "Schmerzauslöser und Schmerztablette zugleich" ist. Sowieso weiß man nicht nur vom Glück erst hinterher, was es war.

Alain und Mausi brauchen diese Auszeit voneinander. Zwar ist auch dank einer Erbschaft für sie gesorgt, doch wachsen die Sorgen, weil ihre Liebe in die Jahre gekommen ist. Nach ihrer großen Zeit beginnt ihre fleischlose. Immerhin hat Mausi ihm als Reiselektüre Cecelia Aherns "P.S. I Love You" in die Unterhose im Koffer geschmuggelt. Vielleicht geht ja noch was: "ach, die Welt war voll von schön gewesenen Frauen".

Vielleicht ist eine überraschende Todesnachricht der Katalysator dafür, dass beide dem Seitenspringen entgegenzittern. Nicht nur in der Oper sitzt neben Mausi der blonde Däne Jesper, ihr Herz schlägt bis hinauf in die Ohren. Alain geht es ähnlich, als seine Ex Babette auf der Konferenz und an seiner Parkbank erscheint. Die nun verstorbene Elfi hatte dieses Rauschzeithafte gelebt wie keine andere. Alle ihre Liebhaber hat sie in Alben archiviert mit ihren in die Kamera lächelnden Unterkörpern. Mausi hat auch Alain in diesem Reigen entdeckt, was eine Enttäuschung war, aber schon keine Ehekrise mehr auslöste. Nun ist die Vielgeliebte mit 40 freiwillig aus dem Leben verschwunden, eine Steilvorlage für alle Freunde von einst hinterlassend, der man hinterherlaufen kann.

Diese Versuche, den eigenen Verkrustungen zu entkommen, beschreibt Stadler sprachlich verspielt, mit Beobachtungen, die den Zeitgeist unterminieren, er wirft seine Formulierungsanker in diese deutsch-französische Beziehung. Das Buch ist melancholisch, von hintergründigem Humor und kein bisschen zynisch. Es schweift aus und ab und bringt die Welt zur Sprache, wobei es immer wieder unverhofft auf den Punkt kommt.

Arnold Stadler: Rauschzeit. S. Fischer, 550 Seiten, 26 Euro.

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