Literatur Die Geschichte des Lichts als ein Abgrund des Glücks

Saarbrücken · Thomas Lehr schickt in seinem auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stehenden Roman eine „Schlafende Sonne“ über die Historie des 20. Jahrhunderts.

 Thomas Lehrs "Schlafende Sonne"

Thomas Lehrs "Schlafende Sonne"

Foto: Hanser Verlag

Milena wird 1970 in Dresden geboren, als Tochter des in der DDR bekannten Malers Andreas Sonntag. Der malt völlig antisozialistisch, seine mythischen Motive sind den Kulturfunktionären ein Gräuel. Er liebt „Freejazz-Rock-Punk“, gibt den „Neuen Wilden“ und opponiert gegen die offizielle Kunstszene. Erst bricht die Stasi in sein Atelier ein und zerstört Kunstwerke, danach drängt sie ihn aus dem Land. Nach der Ausweisung des Vaters beschließt die Mutter, mit Milena nach Ost-Berlin zu gehen. Dort geraten die beiden in den Taumel der friedlichen Revolution von 1989, der in die Wiedervereinigung mündet.

Lehr hat den Anspruch, einen Jahrhundertroman zu schreiben. „Schlafende Sonne“ ist der erste Teil davon. Hauptfigur Milena, deren Vater stark an den jüngst verstorbenen A.R. Penck erinnert, ist ein Mensch mit eigenwilliger Biographie. An ihr entlang erzählt Lehr die politischen, ästhetischen, aber auch die wissenschaftlichen Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Der zweite Band des Großromans soll in wenigen Jahren erscheinen. Es gilt das Strukturprinzip der Spirale, der „Versuch, das Chaos unter Kontrolle zu bringen“.Beständig dreht sich etwas, eröffnen sich neue Perspektiven. Erzählt wird nicht chronologisch, sondern in und aus den sich eröffnenden Lebensdimensionen. Es geht um „den Abgrund des Glücks“.

Die Handlung spielt an einem einzigen Tag, dem 19. August 2011. Am Abend wird die Retrospektive „Schlafende Sonne“ der Kunstwerke von Milena eröffnet. Ihre Arbeiten vereinen die in den Jahren geschehenen politischen Zäsuren und privaten Ereignisse. Milena ist inzwischen mit Jonas verheiratet, einem Physiker, der sich auf Sonnenforschung spezialisiert hat. Aber auch Milenas Lehrer Rudolf, der einige Zeit ihr Liebhaber war, kommt zur Vernissage. Dieses Dreiecksverhältnis dominiert den Roman. Thematisiert wird das am Sonnensymbol, Lehr erzählt es als „Geschichte des Lichts im 20. Jahrhundert“. Licht als physikalisches Phänomen, aber auch als Symbol für Wahrheit und Erkenntnis. Geschildert wird das ganz einseitig an der Geschichte Milenas – einer Frau, die auch durch ihre Kunstproduktion nach Liebe giert.

Neben Milena gibt es weitere Protagonisten, deren Lebensläufen der Autor nachgeht. Sie erzählen Geschichten, die typisch sind für unsere Periode. Etwa „Annabel-BWL“, für Lehr „ein äußerst bürgerliches Geschöpf (Tennis, Reiten, Schrankwand, Missionarsstellung, kleiner, kesser VW)“. Die sehr viel ältere Cara wird als „rundliche, fest und zufrieden in ihre Haut eingenähte Art“ geschildert. An diesen Kurzbiographien merkt man, welch begabter Schriftsteller Lehr ist. Alle Figuren sind eingelagert in einen rasanten Erzählstrom, der uns  einiges abfordert. Neben physikalischem Wissen geht es um philosophische Überlegungen, um Historie, Ästhetik, aber auch Fakten. Da ist der studierte Biochemiker Lehr ganz in seinem Element. So wird Bildungsgut mit realem Leben verwoben.

Milenas Kunst ist wie eine Spiralsonne, von der alle weiteren Erzählungen ausgehen. Kunst ist für sie ein „radikales Außerhalb“, das, was sie in der DDR als gegen das Normative gerichtete Andere erkannte und sich dann zu eigen machte. So kommen Ost und West zusammen.

Thomas Lehr: Schlafende Sonne. Hanser, 640 S., 28 €

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