Porträt der 68er-Generation Die 68er: Selbst- ging vor Weltveränderung

Saarbrücken · Der Soziologe Heinz Bude erzählt in „Adorno für Ruinenkinder“ die Entstehungsgeschichte der 68er-Generation.

 Die 68er politisierten die Gesellschaft – auch in Saarbrücken. Unser Foto zeigt eine Demo gegen den Vietnam-Krieg in der Bahnhofstraße. Im Landesarchiv (Dudweilerstr. 1, Scheidt) vergegenwärtigt derzeit eine Fotoschau die 68er-Ära, bestückt mit fast 100 Großformaten des lange auch für die SZ arbeitenden Pressefotografen Julius C. Schmidt.

Die 68er politisierten die Gesellschaft – auch in Saarbrücken. Unser Foto zeigt eine Demo gegen den Vietnam-Krieg in der Bahnhofstraße. Im Landesarchiv (Dudweilerstr. 1, Scheidt) vergegenwärtigt derzeit eine Fotoschau die 68er-Ära, bestückt mit fast 100 Großformaten des lange auch für die SZ arbeitenden Pressefotografen Julius C. Schmidt.

Foto: Julius C. Schmidt

Klar, auch die 68er sind älter geworden. Trotzdem kann man es kaum glauben, dass all die vermeintlichen Revolutionäre von einst, so sie noch leben, heute zwischen 70 und 80 sind. Und damit die Opas und Omas der als angepasst verschrienen, sogenannten „Millenials“ – der angeblich nicht mehr aufmuckenden 20- bis 30-Jährigen von heute. Die sind, so heißt es immer wieder, die Pragmatiker vom Dienst. Und damit so ziemlich das Gegenteil ihrer 68er-Großeltern, der großen Idealisten des 20. Jahrhunderts, die die Gesellschaft zu ihrer Zeit noch auf den Kopf stellen wollten.

50 Jahre danach hat der Kasseler Soziologe Heinz Bude (selbst 63) den 68ern – gewissermaßen als Auftakt eines zu erwartenden ganzen Schwungs an 68er-Würdigungen im Jubiläumsjahr 2018 – nun unter dem Titel „Adorno für Ruinenkinder“ nochmal auf den Zahn gefühlt. Eigentlich recyclt Bude darin nur fünf Interviews, die er vor 30 Jahren mit fünf 68ern geführt hat. Nicht mal solche aus der allerersten Reihe der Bewegung: Zu seinen Gesprächspartnern zählten etwa der Drehbuchautor Peter Märtesheimer (1937-2004), der Gründer des linken Merve-Verlages Peter Gente (1936-2004) und die feministische Theoretikerin Camilla Blisse. Das klingt nach lauwarm aufgewärmten Thesen. Tatsächlich aber wird daraus ein erhellendes Buch, auch wenn frühere Positionen Budes (etwa aus seiner 1995er-Studie „Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis 1948“) einfließen. Welche Rolle kommt den Revoltierenden von einst heute „im Familienroman der Bundesrepublik“ zu? – das ist die Frage, die Bude sich beim neuerlichen Auswerten der 1988/89 geführten Interviews stellt. Was trieb sie damals an?

Die 68er wollten sich vor allem befreien – die Zeit der politisch-gesellschaftlichen Restauration der 50er und 60er Jahre lag wie Mehltau auf dieser noch zu Zeiten der Nazis (bzw. in den Trümmerjahren danach) geborenen Generation. Was aus der Außerparlamentarischen Opposition (APO) zu den Studentenprotesten führte, die dann im Mai 1968 kulminierten und einen „kurzen Sommer der Anarchie“ (Hans Magnus Enzensberger) zeitigten, löste später wegweisende soziale Bewegungen aus: hier „die sexuelle Revolution“, da den Feminismus; hier die „Kritischen Universitäten“, da die „Roten Zellen“ in Betrieben; hier gewaltsame Radikalisierungen („RAF“) und die Anti-Vietnam-Bewegung, da die Hippiekultur (die Woodstock- und Beat-Generation). All das zusammen ergab ein „bunte Vögel“-Pano­rama der Rebellion, das schon unzählige Male erzählt worden ist.

Bude macht denn auch nicht nochmal die Mottenkiste für die Enkelgeneration von heute auf. Vielmehr macht er deutlich, dass 68 am Ende vielleicht in erster Linie „nicht Weltveränderung, sondern Selbstveränderung“ bedeutete – sprich Autonomie vor Aufstand ging. Als Generalthema der 68er-Generation macht Bude „das Entkommen aus einer Scheinnormalität“ aus. Beine machten ihr Adorno und Marx: Adorno eröffnete den 68ern, dass die Wirtschaftswunderzeit auf Verlogenheiten basierte, und weckte die Wahrheitssucher in ihnen. Und Marx machte ihnen auf grundstürzende Weise bewusst, dass die Gesellschaft veränderbar war und die verkrampfte Scheinnormalität nur das Bewusstsein für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung vernebelte.

Die fünf von Bude Interviewten eint (wie viele 68er), dass sie allesamt „Ruinenkinder“ waren – geboren und aufgewachsen zu Zeiten von Krieg, Flucht und Vertreibung in einer Familienkonstellation, die Bude in psychoanalytischer Diktion als die einer „vereitelten Dreiecksbildung“ tituliert: Ihre Väter starben entweder im Krieg oder kehrten als kaputte Charaktere daraus zurück. Das Schweigen über die NS-Zeit wurde ihnen in die Wiege gelegt – weshalb Bude ihr gesellschaftliches Aufbegehren später im Zusammenhang mit ihrer spezifischen Familienaufstellung sieht. „1968 hieß vor allem Politik der ersten Person“, resümiert er. „Was besagte, dass man das persönliche Unglück als gesellschaftliches Unrecht bezeichnen und erfahren durfte.“ Das „Ich“ konnte mithin nur befreit werden, indem das „Wir“ in Gang kam: Statt stummer Teilhabe endlose Küchengespräche, statt Patriarchat Emanzipation, statt Verklemmtheit Freizügigkeit.

Die Frage, ob Rot-Grün 30 Jahre später die den 68ern gegebene zweite historische Chance genutzt hat (im Sinne Gerhard Schröders, der als Kanzler vorgab, die Stagnation der Ära Kohl beenden zu wollen) oder ob Schröders Agenda-2010-Politik doch eher eine „Perversion“ der 68er-Ideen bedeutete – diese Frage streift Bude zwar zuletzt, beantworten aber tut er sie nicht. Es geht ihm nicht um eine Leistungsbilanz der 68er, sondern um das Vergegenwärtigen ihrer Ausgangssituation: ihr Verwurzeltsein im Krieg, ihre Sehnsucht nach Freiheit, ihre Euphorie im Zeichen der von Twist und Beat unterlegten Hoffnung, die Verhältnisse zum Tanzen bringen zu können.

Heinz Bude: Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968, Hanser, 128 Seiten, 17 €.

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