Neue Brecht-Biografie „Der stinkende Atem der Provinz“

Berlin · Eine „endgültige Darstellung“ von Leben und Werk Bertolt Brechts nennt der Suhrkamp Verlag unbescheiden seine neue Biografie. Sie stammt vom englischen Germanisten Stephen Parker.

 Schriftsteller Bertolt Brecht, der sich mit den Worten „Lasst mich in Ruhe“ von der Welt verabschiedet haben soll.

Schriftsteller Bertolt Brecht, der sich mit den Worten „Lasst mich in Ruhe“ von der Welt verabschiedet haben soll.

Foto: dpa/B3573 Jörg Kolbe

Wie viele Brecht-Biografien braucht das Land? Natürlich immer wieder neue, mit neuen Erkenntnissen für neue Generationen. Aber „über B.B. ist alles gesagt“, befand doch schon Hans-Magnus Enzensberger in seinem Buch über „99 Überlebenskünstler“. Das schreckte den englischen Germanisten und Brecht-Kenner Stephen Parker nicht ab, der laut Verlag die „endgültige Darstellung“ von Leben und Werk Brechts geschrieben hat, die jetzt in deutscher Sprache erschienen ist: „Bertolt Brecht – Eine Biographie“.

Natürlich stützt sich auch Parker auf bekannte Quellen, allerdings auch auf neuere Entdeckungen. Zu den bewährten und offenbar noch immer unerschöpflichen Quellen gehört das Berliner Brecht-Archiv. Für dessen Leiter Erdmut Wizisla liegt jetzt die „genaueste“, auch „angelsächsisch solide“ Brecht-Biografie vor. Und sie ist auch bei aller Materialfülle gut lesbar. Ein besonderes Augenmerk legt der Brite auf die gesundheitlichen Aspekte in Brechts Leben, seine Herzerkrankung und Neigung zu Nierenerkrankungen. Seine instabile Gesundheit erinnerte Brecht immer wieder daran, wie Parker schreibt, dass er nicht mit einem langen Leben rechnen konnte. Brecht starb am 14. August 1956 im Alter von 58 Jahren an einem Herzinfarkt, so die offizielle Todesursache. „Lasst mich in Ruhe!“, sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Bemerkenswert ist bei dieser Biografie auch die „ausländische Sicht“ auf das Kapitel „Brecht und die DDR“, mit deren dogmatischer Kulturpolitik der Autor des „Galilei“ bei aller grundsätzlichen Sympathie für den „ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat“ bis zuletzt haderte. Er lag im Streit mit „bürokratischen SED-Funktionären“, die mit Brechts moderner Theaterästhetik und Verfremdungseffekten nichts anfangen konnten und sogar von „volksfremder Dekadenz“ sprachen. Sie sahen in Brecht die Verkörperung aller Probleme, die die junge DDR mit der Kunst und den Künstlern hatte, wie es in dem Buch heißt. Andere wie der deutsche Kunstkritiker Armin Kesser, der Brecht noch aus früheren Berliner Tagen kannte, nannten Brecht einen „doktrinären Träumer“.

Die Frage, wer in künstlerischen Angelegenheiten das letzte Wort hat, blieb im Grunde bis zum Ende der DDR der kulturpolitische Knackpunkt für die SED, die ihren Führungsanspruch auch in der Kultur nicht aufgeben wollte. Er würde politisch selbst verantworten, was er schreibt, und nicht das SED-Zentralkomitee, betonte Brecht. Gut gesagt, aber auch Brecht musste Kompromisse machen – wenn sie ihm nutzten oder die Funktionäre erst einmal „beruhigten“. Parker spricht von einer „unübersehbaren Tendenz des revolutionären Sozialismus“ (einen solchen kennt er offenbar), „die Künstler mit autoritären Mitteln zu gängeln“. Unnachgiebig blieb Brecht bei seiner Forderung, ihm für sein mit Helene Weigel neu gegründetes Berliner Ensemble als Haus das Theater am Schiffbauerdamm zu überlassen (wo die „Dreigroschenoper“ am 31. August 1928 ihre triumphale Uraufführung erlebt hatte, und gleich gegenüber im Großen Schauspielhaus 1930 „Das weiße Rössl“ uraufgeführt wurde), was zunächst auf einigen Widerstand stieß. „Zum ersten Mal fühle ich den stinkenden Atem der Provinz hier“, notierte Brecht. „Der Herr Oberbürgermeister sagte mir weder Guten Tag noch Adieu, sprach mich nicht einmal an und äußerte nur einen skeptischen Satz über ungewisse Projekte, durch welche Vorhandenes zerstört würde.“

Die „stinkende“ ostdeutsche „Provinz“ verlieh ihrem „Vorzeigekünstler“ 1954 den „Stalin-Friedenspreis“ (er war einer der letzten Preisträger), auch als Dank für seine Loyalität dem ostdeutschen Staat und seiner Führung gegenüber (wie zuletzt nach dem Volksaufstand 1953);  die  Staatsbürgerschaft nahm Brecht auch an (aber ohne seinen österreichischen Pass zurückzugeben). In gewisser Hinsicht sei Brecht der Vorläufer jener „kritisch-loyalen“ DDR-Künstler gewesen, „die die westdeutsche Presse im Kalten Krieg als Dissidenten feierte, was sie nach der Wiedervereinigung aber nicht vor Denunziationen wegen ihrer unstrittigen Nähe zum Regime schützte“, wie der Autor in seiner detailreichen, dennoch kurzweiligen Biografie betont. Sie könnte bei einer nachgewachsenen neuen literaturinteressierten Generation auf Interesse stoßen, auch oder gerade weil „von außen“ gesehen wird.

Stephen Parker: Bertolt Brecht. Suhrkamp, 1030 Seiten, 58 Euro.

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