Prix Goncourt-Preisträgerin Der Sprengstoff sozialer Differenzen

Saarbrücken · Leïla Slimanis mit dem Prix Goncourt prämierter Roman „Dann schlaf auch du“ rollt die Hintergründe eines realen Kindermordes auf.

Es hätte alles so schön sein können. Die Mittdreißiger Myriam und Paul haben eine Nanny für ihre beiden Kinder gefunden, die wie aus dem Bilderbuch entstiegen ist. „Keine ohne Papiere … niemanden, der Angst hat, die Polizei zu rufen“. Das war die Bedingung, als die Kandidatinnen wie zum Casting im Appartement im Pariser 10. Arrondissement vorgesprochen haben. Louises Arbeitsbeginn dann war wie ein Happy End. Sie schuftet, damit das Paar wieder schuften kann: Paul als Musikproduzent, Myriam als Anwältin. Endlich ist sie nicht mehr aufs Hausfrauendasein zurückgeworfen, und langsam findet sogar ihr Mann Gefallen an ihrer neuen Engagiertheit, zumal das Kindermädchen auch vorzüglich kocht und die Wohnung in ein mustergültiges bürgerliches Zuhause verwandelt. Die Kinder mögen sie sowieso.

Aber schon der erste Satz im zweiten Roman der jungen französisch-marokkanischen Autorin Leïla Slimani macht auf brutalst mögliche Weise klar, dass die Idylle in der Katastrophe endete. In einem Stakkato kurzer Sätze rollt sie vom Startpunkt eines doppelten Kindsmordes her den Fall auf. Nicht wie in einem auf Spannung setzenden Krimi tut sie das, vielmehr legt sie den Finger in die Wunden einer spätkapitalistischen Gesellschaft mit ihren sozialen Verwahrlosungen an beiden Enden des Spektrums. Hier das Elend der bourgeoisen Bohemians: sich selbst überlassene Kinder, deren Eltern vom Ehrgeiz getrieben sind. Dort das der sozial Deklassierten in den Banlieu-Wohnburgen des Prekariats: Schuldenberge, Gläubiger und die Angst vorm Leben auf der Straße.

Indem Slimani detailscharf und atmosphärisch dicht herauspräpariert, dass und warum diese Differenzen unüberwindbar sind, trifft sie einen Nerv unserer Zeit. Und bekam für ihren in Frankreich mehr als eine halbe Million mal verkauften Roman den Prix Goncourt. Selten wurde das Aufeinanderprallen dieser Bevölkerungsschichten so plausibel aus wechselnden Perspektiven eingekreist. Das und wie es weder Verurteilungen noch Wertungen bemüht, macht das Buch so bemerkenswert.

Protokolliert wird, was diese Dreierkonstellation ausmacht, die rein äußerlich funktioniert. Nur ist da diese alles durchziehende Überforderung auf beiden Seiten, die das Unbegreifliche grundiert wie ein Schmierfilm. Eine Dienstbotin wird wider Willen Teil der Intimsphäre besser Situierter. Diese versuchen, sie in ihr Leben zu integrieren, lassen die fremd Bleibende an ihren Parties teilnehmen, fahren mit ihr sogar in Urlaub nach Griechenland, sind freundlich und distanzlos. In solch kerkerhaftem Glück muss sich Louises Verunsicherung steigern. Leise Dissonanzen dringen durch und wachsen zu Affekten, obwohl – oder weil – beide Seiten nichts falsch machen, bis dann doch alles eskaliert. Der Weg vom Rand der Gesellschaft in deren Zentrum ist nicht durch Goodwill-Aktionen zu ebnen. Er ist von vielen objektiven Verwerfungen verstellt, die sich steigern bis zur Tragödie. Dies gnadenlos und in verstörendem Realismus aus einer unspektakulären Normalität hergeleitet zu haben macht diesen Roman so beängstigend wahr.

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand. 224 Seiten, 20 €

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