Schriftsteller Peter Härtling ist tot Der „Kopfwanderer“ hat seine letzte Reise angetreten

Saarbrücken · „Wer nicht mehr gehen kann, ist nicht unterwegs. Es sei denn, er lässt seine Gedanken fliegen“, heißt es in Peter Härtlings letzter Romanbiographie über Verdi, die 2015 erschienen ist. Der italienische Komponist, schrieb Härtling darin im Vorwort, sei ihm „nah in seinen Schwächen und in seiner Furcht, aus der Fantasie zu stürzen, das Handwerk nicht mehr zu können“. Er selbst hatte da schon Schlaganfall und Herzinfarkt überlebt, außerdem von den Ärzten schlechte Herz-, Lungen- und Nierenwerte attestiert bekommen – aber das Gehirn, versicherte Härtling schelmisch, sei immer noch „ordentlich durchblutet, seine Einfallskraft demnach nicht beeinträchtigt“. Als ob das bei den zauberhaften Büchern seines Spätwerks irgendjemand in Zweifel gezogen hätte.

 Peter Härtling am Schreibtisch in Tübingen (2009).

Peter Härtling am Schreibtisch in Tübingen (2009).

Foto: dpa/Bernd Weissbrod

Unterwegs war Härtling immer. Im Leben wie in seinen Büchern. Er selbst nannte sich einen „Kopfwanderer“. Auf die Welt kommt er 1933 in Chemnitz. Während des Zweiten Weltkrieges zieht die Familie ins mährische Olmütz, 1945 kommt der Vater, von Beruf Rechtsanwalt, in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ums Leben. Als Kind muss der kleine Peter mit ansehen, wie Soldaten der Roten Armee die Mutter vergewaltigen. Die bringt sich wenig später 1946 um. Härtling wächst bei einer Tante auf, die ihn in ein Heim stecken will. Erst auf der Türschwelle drehen die beiden wieder um. Nach dem Gymnasium macht er sein Volontariat bei der Nürtinger Zeitung und wird Journalist. Der Maler Fritz Ruoff (1906-1986) wird sein Mentor. Auch der evangelische Pfarrer Martin Lörcher, Begründer der Telefonseelsorge in Württemberg, nimmt sich seiner an: „Das war der einzige Mensch, der mich in den Arm genommen hat, als meine Mutter starb. Er roch nach Äpfeln“, erinnerte sich Härtling später. Er habe als 14-Jähriger Albert Camus gelesen und Lörcher wütend entgegengeschleudert: „Gott ist tot.“ Daraufhin habe der Pfarrer geantwortet: „Das musst du ihm schon selbst sagen.“

Über die Heidenheimer Zeitung und die Zeitschrift „Der Monat“ führt Härtlings Weg zum S. Fischer Verlag, wo er es bis zum Cheflektor und zum Mitglied der Geschäftsleitung bringt. 1973 macht er sich als freier Schriftsteller selbstständig. Trotz der schrecklichen Erlebnisse im Krieg und des frühen Todes der Eltern, die er in autobiographischen Romanen wie „Zwettl“ (1973), „Nachgetragene Liebe“ (1980) oder „Herzwand“ (1990) verarbeitet, bewahrt Härtling sich eine positive Lebenshaltung und eine Gutmütigkeit, die ihresgleichen sucht. Zwar leidet er zeitlebens an Depressionen und muss sich mehr als einmal durch einen seiner Enkel aus einer Schreibblockade holen lassen. Die Liebe zu den Menschen aber bewahrt er sich.

Wer einmal seiner Stimme gelauscht hat, etwa in der Hörfunksendung „Literatur im Kreuzverhör“, die er lange moderierte, wird den warmherzigen Ton nicht mehr aus dem Ohr bekommen. Kein Wunder hat dieser Erzähler dann auch als Kinderbuchautor Erfolg. Mit „Das war der Hirbel“ (1973), „Ben liebt Anna“ (1979), „Krücke“ (1987) oder zuletzt „Djadi, Flüchtlingsjunge“ (2016) nimmt er die Herzen der Heranwachsenden im Sturm.

Nur Nichtwissende stecken den vielfach ausgezeichneten Schriftsteller in die Schublade des Kinderbuchautors. Hat er doch wunderschöne Gedichte, Essays und Erzählungen geschrieben. Am bemerkenswertesten sind seine immer feinfühligen Romanbiographien. „Hölderlin“ macht 1976 den Auftakt. Später folgen Bücher über Schubert, Schumann, E.T.A. Hoffmann und Fanny Hensel-Mendelssohn. Gestern ist Peter Härtling in Rüsselsheim nach kurzer, schwerer Erkrankung gestorben, wie sein Verlag Kiepenheuer & Witsch mitteilen ließ.

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