Literatur Der Hofnarr auf der Schlachtplatte

Saarbrücken · Daniel Kehlmanns Roman „Tyll“ kreist um Eulenspiegel und den Dreißigjährigen Krieg und ist sein bestes Buch seit langem. Auf der Buchmesse wird „Tyll“, eine der meist erwarteten Novitäten im Herbst, für Smalltalk-Stoff sorgen.

 Der Schriftsteller Daniel Kehlmann (43).

Der Schriftsteller Daniel Kehlmann (43).

Foto: dpa/Maurizio Gambarini

„Du kannst machen, was man machen muss“, klagte der Schmierenkomödiant und Autor Lindemann in Daniel Kehlmanns Roman „F.“, „aber du bist leer. Hohl bist du.“ Eben das warf man auch Kehlmann immer wieder vor: Dass er, obwohl als Erzähler begabt und ironisch leichtfüßig wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor, zu wenig aus seinen vielen Talenten mache: selbstverliebte Vexierspiele, Tricks und Bluffs, formal brillante, aber letztlich hohle und sterile Hochstapler- und Schwindlerromane wie „Ruhm“ und „F.“.

Mit seinem neuen Roman knüpft Kehlmann jetzt an seinen bislang größten Erfolg an, die Gelehrtensatire „Die Vermessung der Welt“. „Tyll“ ist Kehlmanns bestes Buch seit langem: schwerelos, aber nicht zu leicht, ernst, aber nicht gerade blutig ernst, wahrheitsgetreu und doch frei im Umgang mit historischen Fakten.

Das fängt schon mit dem Helden an. Tyll, der Narr, Akrobat und Schauspieler, ist natürlich Till  Eulenspiegel. Aber Eulenspiegel hat (wenn überhaupt) im frühen 14. Jahrhundert gelebt, während Kehlmanns Tyll 300 Jahre später in die blutigen Wirren des Dreißigjährigen Kriegs hineingeboren wird. Als Hofnarr macht er, geschützt durch Kunst- und Narrenfreiheit, Scherze auf Kosten der Hochwohlgeborenen. Aber er ist mehr als nur ein lustiger Schalk oder Grimmelshausens Naivling Simplicissmus. Tyll ist der unsterbliche Überlebenskünstler schlechthin, der selbstreflektierte Spötter, halb moderner Entertainer und Comedian, halb ein ironisches Selbstporträt Kehlmanns als „Herr der Luft“. Schreiben ist ja wie Seiltanzen, ein „dem Fallen davonlaufen“ ohne Netz, aber mit doppeltem Boden.

Tyll tritt in jedem der acht Kapitel auf, aber wichtiger als sein Charakter oder seine Biografie ist für Kehlmann die Zeit. Sachkundig und sprachgewaltig beschwört er die düstere Welt des 17.Jahrhunderts, ein Chaos von Krieg und Gewalt, Aberglaube und religiösem Terror, das gerade von ersten zaghaften Lichtstrahlen der Aufklärung und einer teutschen Nationalliteratur erhellt wird. Selbst die größten Geister der Epoche stecken noch hüfttief im Sumpf der Vorurteile und Barbarei. So der englische Großinquisitor Tesimond und sein deutscher Famulus, der Universalgelehrte Athanasius Kircher. Die beiden Jesuiten reden leutselig mit Tylls Vater, einem belesenen Müller mit Neigung zum Selberdenken. Sie sorgen dafür, dass der Volksphilosoph peinlich befragt und als Hexer hingerichtet wird.

Kehlmanns Deutschland erinnert mehr an die Urwälder und Fieberfantasien des Magischen Realismus südamerikanischer Prägung als an die verbürgte Geschichte. Kircher etwa, der allwissende Trickster und „Drakontologe“, Erfinder eines Katzenklaviers und Entzifferer der Hieroglyphen, behauptet mit vielen logischen Paradoxa, Drachen auch und gerade dort finden und zähmen zu können, wo es keine gibt.

Märchen und Wahn, Wirklichkeit und Literatur, Gott und weltliche Gewalt sind in Kehlmanns Roman noch ungeschieden. Er beschreibt Waldgeister, Zaubersprüche und Pentagramme, Alchemisten, empfindsame Henker und sprechende Esel, die Schlacht von Zusmarshausen und die Belagerung von Brünn. Vaganten, Büßer und Geißler treten auf, Bänkelsänger und Barockdichter wie Paul Fleming und Martin von Wolkenstein, Shakespeares Schauspieltruppe samt König Lear und seinem Narren. Wir sehen Friedrich V., den unglücklichen „Winterkönig“, in Gustav Adolfs Feldlager um Gnade und Lehen betteln; am Ende handelt seine Witwe Elizabeth, politisch gewiefter als ihr Mann, mit den in Osnabrück versammelten Delegationen der Großmächte ihre Rehabilitation aus.

Immer dabei, wenn auch oft nur im Hintergrund: Tyll, der Possenreißer, Messerwerfer, Bauchredner, Spötter, der Mineur unter der Erde und Klosterbruder in Andechs. Er getraut sich, den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, poetisch durch die Blume oder grob und direkt. Dafür lieben ihn alle. Selbst der Kaiser im fernen Wien würde gern seinen Hofstaat mit ihm schmücken, aber der kluge Narr bleibt auf Distanz und geht ins Exil.

Auch Kehlmann hält seine Leser auf Distanz. Er spart nicht an Zauberkunststückchen, Akrobatik und historischer Bauchrednerei. Aber „Tyll“ ist weder ein brav chronologisch erzählter Schelmen- und Gauklerroman noch eine barockisierende Allegorie wie Günter Grass‘ „Treffen in Telgte“. Es eine Schlachtplatte des Krieges mit acht Schüsseln und einem grinsenden Horrorclown in der Mitte, nicht mehr und nicht weniger. Kritiker wie Sigrid Löffler und Volker Weidermann jubeln jetzt, Kehlmann habe sich endlich triumphal aus dem Spiegelkabinett seiner Eitelkeiten befreit, aber das ist höchstens die halbe Wahrheit. In einer seiner gelungensten Eulenspiegeleien präsentiert Tyll einmal eine weiße, leere Leinwand in einem prunkvollen Rahmen: Kein Fürst, kein Experte will sich blamieren, und so loben alle die Tiefe und Schönheit des Gemäldes.

Kehlmann, der Schwindler und Erzbetrüger, liefert einen historischen Roman, der souverän erzählt und raffiniert zwischen Fiktion und Fakten, Komik und Tragik ausbalanciert ist, aber auch ein wenig ziellos durch den Dreißigjährigen Krieg mäandert. „Denn es ist alles nicht lang her“, heißt es einmal, aber man fragt sich schon manchmal auch: Was zum Teufel eigentlich, und warum gerade das jetzt?

Daniel Kehlmann: Tyll. Rowohlt, 495 Seiten, 22,95 €.

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