Der Fall Cizre, ein Lehrstück über die Türkei

Saarbrücken · „Frau Bürgermeisterin, es sollen keine Panzer kommen“, sagt im Film ein Kind zu Leyla. „Sie werden Euch nicht mehr angreifen“, antwortet sie. Das war im März 2015, als kurz Hoffnung aufkeimte in der 140000 Einwohner-Stadt Cizre, Kurden- und PKK-Hochburg in Südostanatolien unweitder syrischen Grenze.

 Leyla Ismet (im karierten Hemd) im Juni 2015. Foto: Essence Film

Leyla Ismet (im karierten Hemd) im Juni 2015. Foto: Essence Film

Foto: Essence Film

"Frau Bürgermeisterin, es sollen keine Panzer kommen", sagt im Film ein Kind zu Leyla. "Sie werden Euch nicht mehr angreifen", antwortet sie. Das war im März 2015, als kurz Hoffnung aufkeimte in der 140 000-Einwohner-Stadt Cizre, Kurden- und PKK-Hochburg in Südostanatolien unweit der syrischen Grenze.

2014 hatte die in Bremen aufgewachsene Kurdin Leyla Imret die Bürgermeisterwahlen haushoch gewonnen. Sie holte 81 Prozent, wurde mit 26 jüngste Bürgermeisterin der Türkei. Asli Özarslans hochpolitische Doku "Dil Leyla", die im Wettbewerb des Ophüls-Festivals steht (Mi: 15.15 Uhr; CS 2; Do: 22.15 Uhr, CS 5; Fr: 20.15 Uhr, Achteinhalb; Sa: 19.45 Uhr, CS 4), zeichnet nicht nur Leyla Isrets desillusionierenden Weg nach, sondern auch die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Südosten der Türkei.

Um Leylas Geschichte in ihrem Diplomfilm an der Ludwigsburger Filmakademie zu erzählen, fuhr Özarslan, türkischer Herkunft und 1988 in Berlin geboren, 2015 viermal nach Cizre. Zuletzt, im November 2015, war das nurmehr im Schutz einer EU-Delegation möglich. Schon im Juni, kurz vor der türkischen Parlamentswahl, sei "eine große Spannung zu spüren gewesen, es lag was in der Luft", erzählt die Regisseurin. Nachdem die prokurdische HDP die 10-Prozent-Hürde übersprang und es ins Parlament schaffte, kam es zu Unruhen. Präsident Erdogan schickte das Militär, im Winter 2015/16 wurde Cizre 80 Tage lang belagert und ein Massaker an Kurden verübt. Es gab 300 Tote; viele, heißt es, wurden bei lebendigem Leib verbrannt. Der Aufschrei von UN und Menschenrechtlern prallte an Erdogans Regierung, die ihre Hände in Unschuld wusch, einfach ab. Internationale Medien entsetzten sich kurz, dann war das Massaker von Cidre wieder vergessen.

Özarslans Film ruft es in Erinnerung. Er setzt 1993 mit Archivbildern vom kurdischen Neujahrsfest ein: Man sieht, wie ein Panzer die Feierlichkeiten auseinandersprengt und seine Besatzung Jagd auf Flüchtende macht. Die fünfjährige Leyla konnte sich retten. Später flieht sie mit der Schwester ihres Vaters, eines vom Militär erschossenen führenden PKKlers, nach Deutschland. In Cizre zurück bleiben ihre Mutter und ihr Bruder. Özarslans klug montierter Film deutet an, dass Isrets Entscheidung, 20 Jahre später Bremen - zweiter Schauplatz des Films - zu verlassen und in ihrer Heimat als Bürgermeisterin anzutreten, auch dem väterlichen Erbe geschuldet ist. "Ich will meinem Volk helfen", sagt sie. Nie plakativ, zeigt die Doku ihr enormes Standvermögen. Die Unruhen nach dem Wahlerfolg der prokurdischen HDP torpedieren ihren Plan, in Cimre 15 000 Bäume zu pflanzen.Leyla wird abgesetzt, vorübergehend verhaftet. Ihr droht nun, wie 26 weiteren Bürgermeistern in den kurdischen Gebieten, so die Informationen der Regisseurin Özarslan, eine Anklage wegen angeblicher Terror-Propaganda - der Standard-Vorwurf, mit dem Erdogans Regierung Missliebige festsetzt. Ans Ende ihres aufwühlenden Films setzt Özarslan Aufnahmen eines türkischen Journalisten, der Anfang 2016 die Zerstörung Cizres dokumentiert hat. Sie zeigen eine in Grund und Boden gebombte Stadt. Leyla Imret, erzählt die Regisseurin uns am Telefon, ist seit zwei Monaten nicht zu erreichen. Ihr Schicksal ist ungewiss.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort