Frankreichs größtes Familienfoto-Archiv Das zweite Leben alter Familienfotos

Metz · Die Metzer Galerie „La Conserverie“ beherbergt das einzige Archiv mit privaten Bildern in ganz Frankreich. Was steckt hinter dem Konzept? Und was ist dort alles zu sehen?

 Blick in die Ausstellung in der Metzer Galerie „La Conserverie“.

Blick in die Ausstellung in der Metzer Galerie „La Conserverie“.

Foto: La Conserverie

Mittags, wenn Anne Delrez ihre Galerie in der Metzer Rue de la petite boucherie aufschließt, steht so manchesmal ein Karton auf der Matte. „Meist steht kein Absender darauf“, sagt die Fotografin und doch weiß sie schon, was er enthält: Bündelweise alte Familienfotos, die vielleicht mal in Alben klebten oder auch nur ungeordnet bei jemand auf dem Dachboden herumstanden. Es gebe auch Leute, die brächten ihr die Fotos persönlich vorbei, erzählt Delrez. Bei ihr wissen sie die alten Schätze in guten Händen, denn Del­rez wirft sie nicht weg.

Seit 2011 leitet die gebürtige Metzerin „La Conserverie, lieu d‘archives“, das frankreichweit erste Archiv für private Familienfotos. Insgesamt 18 000 solcher Fotos aus ganz Europa hat sie schon gesammelt. Sie bewahrt sie nicht nur, digitalisiert und verschlagwortet die Bilder, sie stellt sie auch zu ungewöhnlichen Ausstellungen zusammen. „Se tenir“ (sich halten) hieß eine. Dafür bat sie Metzer, ihr Fotos zu geben, auf denen sich Menschen, die von ihren Angehörigen in der Natur aufgenommen worden waren, während sie an Zweige griffen oder sich auch an Baumstämme anlehnten.

Hunderte von Variationen kamen auf diese Weise zusammen und ließen eine vermeintlich individuelle Pose als komische Standardsituation erscheinen. „Ich befasse mich mit diesen Bildern aber nicht aus soziologischem oder ethnografischem Interesse“, sagt Delrez. „Es sind die Emotionen, die darin stecken, jedes Bild erzählt etwas über die Gefühle, die derjenige, der es aufgenommen hat, für den Abgebildeten empfindet“.

Einmal, erzählt die Galeristin und Archivarin, hat sie Metzer aufgerufen, ihr für eine Ausstellung ihre Brieftaschenfotos zur Verfügung zu stellen. Bei der Ausstellungseröffnung kam dann eine Frau, die sich auf einem Foto wiedererkannt hatte, recht erschrocken auf Delrez zu und wollte wissen, woher sie das Bild habe. Als die Frau dann erfuhr, dass ihr Ex-Mann, von dem sie seit über 40 Jahren geschieden war, es noch immer im Portemonnaie bei sich getragen hatte, war sie laut Delrez total gerührt.

Auch Fotos ihrer eigenen Verwandtschaft hat sie schon ausgestellt. Als ihr Großonkel und ihre Großtante starben, gab man ihr 120 Fotos. Das Besondere daran: Die Beiden, Charles und Gabrielle (so auch der Ausstellungstitel), hatten sich im Alltag oder im Urlaub immer gegenseitig vor demselben Hintergrund fotografiert. „Es waren quasi 60 Zwillingsfotos“, sagt Delrez. „Sie wollten, dass jeder eines hat, es war eine einzige gegenseitige Liebeserklärung.“ Das Erstaunliche sei ja, fügt die Galeristin hinzu, dass man auch von fremden Menschen, die man auf einem Foto sieht, berührt sein könne.

Die Conserverie, die vom Verein „C‘était où? C‘était quand?“ getragen wird, zeigt aber nicht nur Fotos von Laien. Sie lädt auch Künstler ein, die sich in ihren Arbeiten mit Familienfotos befassen. Benoît Luisière etwa spielte in seiner Schau mit dem Titel „Un autre jeu“ mit der Familie als Fiktion und montierte sich in fremde Familienfotos hinein. Erwan Venn, der die Lügengeflechte seiner Familie aufdecken wollte, ließ von seinen Verwandten und Vorfahren in „Headless“ nur die Kleiderhüllen stehen und retouchierte Gesichter und Hände, alles Fleischliche, fort.

Parallel zu den fünf bis sechs Ausstellungen pro Jahr hat Delrez in den vergangenen Jahren an einem Projekt gearbeitet, das Kinder zu kreativem Schreiben anregen sollte. „Autobiografie als Lüge“ hieß es und liegt jetzt als Buch vor. In Schulen ließ sie Kinder und Jugendliche zu blind ausgewählten fremden Familienbildern autobiografische Texte schreiben. Regelmäßig empfängt Delrez in der Conserverie, die vom Staat, der Region Grand Est und ein wenig auch von der Stadt Metz subventioniert wird, Schulklassen, um ihnen die Fotoausstellungen pädagogisch zu vermitteln.

„Icônes“ (Ikonen) heißt ihre nächste Ausstellung, die am kommenden Freitag um 18 Uhr eröffnet. Da zeigt sie ausnahmsweise keine Laienfotos, sondern die offiziellen Fotos der französischen Staatspräsidenten von De Gaulle bis Macron, die in jeder Mairie archiviert werden. „Es geht mir dabei um die Selbst-Inszenierung der Macht“, erklärt Anne Delrez. Die Fotos, für die sich die Staatspräsidenten immer einen berühmten Fotografen auswählten, verrieten erstaunlich viel über ihren Regierungsstil, hat Delrez festgestellt. „Das Besondere bei Macron ist, dass er sich einen Werbefotografen ausgesucht hat“, erklärt sie. Es gebe Gerüchte, wonach die Retouchierarbeiten an seinem Porträt drei Tage gedauert hätten.

In spätestens einer Woche, ist die Archivarin sicher, wird sie wieder vermehrt Kisten auf der Matte vor ihrer Galerie oder aber Post mit neuen Fotoschätzen erhalten. Das sei immer so, sagt Anne Delrez lächelnd, wenn mal ein Bericht über die Conserverie in den Medien erscheine.

 Foto aus der einer der ersten Ausstellungen: „Charles und Gabrielle“.

Foto aus der einer der ersten Ausstellungen: „Charles und Gabrielle“.

Foto: La Conserverie

Öffnungszeiten: Mittwoch, Donner­stag und Samstag 14 bis 18 Uhr, Freitag 10 bis 13 Uhr und 14 bis 18 Uhr sowie nach Vereinbarung.

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