Literatur Das Gräbchen im Familiengrab

Saarbrücken · Richard Fords Erinnerungen an seine Eltern: Der große Autor macht sich in „Zwischen ihnen“ ganz klein. Ist wieder das staunende Kind. Ford erzählt aber nicht nur die Geschichte seiner Eltern, sondern auch die eines Amerika, das noch weit und offen war, größer als es ein verrückter Präsident je machen könnte.

 Foto aus Fords Familienalbum. Aufgenommen ist es 1946 in Jackson, Mississippi und zeigt Edna, Richard und Parker Ford. 

Foto aus Fords Familienalbum. Aufgenommen ist es 1946 in Jackson, Mississippi und zeigt Edna, Richard und Parker Ford. 

Foto: Richard Ford/Hanser Berlin/Archiv Richard Ford

Richard Fords Vater war Vertreter für Waschmittel und Wärmekissen in Jackson, Mississippi, ein Mann wie Willy Loman aus Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisender“. Parker Ford führte ein quasi mythisches Leben on the road, ort und zeitlos: Im Winter trug er einen Filzhut, im Sommer einen Strohhut, er fuhr wechselnde Straßenkreuzer mit klangvollen Namen – Ford Tudor, Pontiac Star Chief, Chevrolet Bel Air, Oldsmobile 88 – auf immer denselben Straßen quer durch Mississippi, Arkansas und Louisiana. Handlungsreise bedeutete: schäbige Hotels, Diners und Bars, Klinken putzen bei Piggly Wiggly und Sunflower, Hämorrhoiden, Hühneraugen und Herzinfarkte von den endlosen Autofahrten.

Für seine Frau und seinen Sohn Richard war es nicht einfacher: Der Vater war immer präsent, aber selten da. Unter der Woche war er unterwegs, am Wochenende besuchte man Verwandte, montags war er schon wieder auf Achse. Als sein Vater 1960 starb, war Richard gerade 16 Jahre alt. Dass er praktisch ohne Vater aufwuchs, dass er nie als Erwachsener mit ihm sprechen konnte, machte Ford nach seinem eigenen Bekenntnis zum Schriftsteller. Hätte er kein Wort geschrieben, wäre es ein „erträglicher Verlust“ gewesen, aber dann wäre auch dieses schöne, kluge Buch nie entstanden.

Der Vater war für Ford „wie ein Fremder“, dafür war ihm die Mutter umso näher. Sie hat ihn beschützt und geliebt. Ihre „fast unvorstellbare Liebe“ hat er ihr, nicht nur in seinen Romanen, zurückgegeben. Kein Tag vergehe, an dem er seiner Eltern nicht in Liebe und Dankbarkeit gedenke. Zwischen den beiden Flügeln des Eltern-Doppelaltars liegen mehr als 30 Jahre. Der Text über seine Mutter entstand kurz nach ihrem Tod 1981, der über seinen Vater erst 2015. In den Jahrzehnten dazwischen hat sich Fords Bild von seinen Eltern in mancher Hinsicht verschoben; eben diese kleinen Widersprüche und Brüche geben diesem schmalen Buch Größe und Kontur.

Ford wurde von zwei sehr unterschiedlichen Menschen erzogen und geprägt. Edna kam aus dem Hillbilly-Hinterwald; ein hübsches, keckes Mädchen, das in der Stadt aufblühte. Ihr Mann ließ sich von ihrer pragmatischen Klugheit nur zu gern führen: Er war ein irischstämmiger Sonnyboy, charmant und sanft, aber auch ein bisschen schwach, unbeholfen und nicht sehr schlau. Er war guter, aber „kein moderner Vater“, ein treuer Ehemann; vor allem aber hatte er „ein Talent dafür, sich lieben zu lassen“.

Je weniger Ford über seine Eltern weiß, je mehr die Erinnerung an sie verblasst, desto mehr Fragen stellt er sich: Was war vor seiner Zeit? Wie lebten seine Eltern ohne ihn? Und was bedeutete für sie, so spät noch ein Kind zu bekommen? Richard Ford kommt in dieser Doppelbiografie natürlich auch vor. Nicht nur, weil seine Eltern für ihn da waren und seinetwegen ihr Leben immer wieder umgekrempelt haben. Sie lehrten ihn ganz ohne Worte, worauf es beim Schreiben ankommt: Man kann und muss auch dem ereignisarmen, unheroischen Leben die Gültigkeit geben, die es verdient. Ford glaubte nie an Transzendenz; er war immer pragmatischer Realist, ein Dichter des „normalen“ Leben. Der Mensch, selbst der unscheinbarste, „ist so viel mehr, als irgendwer je erzählen könnte“. Schriftsteller sollen nichts beschönigen oder überhöhen, nur dem Leben eine „getreuliche, verlässliche, zuweilen auch drastische Schlüssigkeit geben“.

Der große Schriftsteller macht sich hier ganz klein. Er ist wieder das staunende Kind, der aufsässige, undisziplinierte Junge, der vom Vater schon mal eine „Tracht Prügel“ bekommt. Ford erinnert sich voller Wehmut und Demut an eine „herrliche Kindheit“. Mit der Zukunft hat er eh schon lange abgeschlossen. „Falls es einen gemeinsamen Geist in meiner Generation ‚vor 45‘ gibt“, höhnte sein Alter Ego, der Immobilienmakler und Sportreporter Frank, in Fords Roman „Frank“, „dann unsere feste Absicht, tot zu sein, bevor die große Scheiße über uns hereinbricht wie ein Tsunami“.

„Das Eindringen in die Vergangenheit“, schreibt Ford jetzt in einer Vorbemerkung, „ist in jedem Fall eine heikle Sache, weil die Erinnerung uns zu den Menschen machen will, die wir sind, und immer wieder halb daran scheitert.“ Er weiß um die Lücken und Unschärfen seiner Erinnerung, aber er weigert sich, sie mit lauten Indiskretionen, „literarischen“ Erfindungen und geborgten Bildern zu stopfen. „Dass wir das Leben unserer Eltern nur unzureichend erfassen, sagt nichts über ihr Leben aus. Nur über uns eigenes.“ Der Respekt gebietet, unser Nichtwissen und den kindlich verengten Blick anzuerkennen und durch behutsame Mutmaßungen, Fragen und Spekulationen dem Leben der anderen die Freiheit zu lassen, „mehr zu sein, als es wirklich war“. Ford erzählt so nicht nur die Geschichte seiner Eltern, sondern auch die eines Amerika, das noch weit und offen war, größer als es ein verrückter Präsident je machen könnte. Es war die Zeit zwischen New Deal, Welt- und Vietnamkrieg. Es gab keinen Klimawandel und kein lnternet, aber schon Autoradios und noch den Glauben an eine bessere Zukunft.

Fords Mutter litt sehr unter dem „kränkenden Unrecht“, dass ihr geliebter Mann nach seinem Tod von seiner Mutter entführt und gegen ihren Willen im Familiengrab der Parkers beigesetzt wurde. Aus Protest gegen diese gewaltsame Trennung hat Ford die Gräber seiner Eltern nie besucht. Jetzt hat er in seinem Buch Vater und Mutter endlich nebeneinander zur letzten Ruhe gebettet, so wie sie es immer haben wollten. „Zwischen ihnen“ bleibt ein kleiner Spalt, ein Gräbchen, in dem ihre Unterschiedlichkeit und ihr einziger, geliebter Sohn Platz finden.

 Pulitzerpreisträger Richard Ford (73).

Pulitzerpreisträger Richard Ford (73).

Foto: Hanser Berlin/Peter Hassiepen

Richard Ford: Zwischen ihnen. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Hanser Berlin, 144 S., 18 €.

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