Buchpreisträgerin Inger-Maria Mahlke Wir alle sind immer wieder ein Anderer

Saarbrücken · Die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises über ihren Roman „Archipel“ und die wechselvolle Historie Teneriffas.

  „Das Rückwärtserzählen zwingt den Leser eher, selbst Verknüpfungen zu erstellen, hoffe ich. Und unsere eigentlich alltägliche Wahrnehmung nochmal besser nachzuvollziehen, dass wir erst einmal nur die Oberfläche eines Menschen kennen“, sagt Inger-Maria Mahlke über ihren Roman „Archipel“, aus dem sie am Montag in Saarbrücken liest.

„Das Rückwärtserzählen zwingt den Leser eher, selbst Verknüpfungen zu erstellen, hoffe ich. Und unsere eigentlich alltägliche Wahrnehmung nochmal besser nachzuvollziehen, dass wir erst einmal nur die Oberfläche eines Menschen kennen“, sagt Inger-Maria Mahlke über ihren Roman „Archipel“, aus dem sie am Montag in Saarbrücken liest.

Foto: dpa/Arne Dedert

Anfang Oktober hat Inger-Maria Mahlke (41) für ihren Roman „Archipel“ den Deutschen Buchpreis erhalten. Sie schildert darin, verankert in der Geschichte dreier Familien, die Veränderung der Kanareninsel Teneriffa über ein Jahrhundert hinweg und hangelt sich dabei aus der Gegenwart bis in die Prä-Franco-Ära zurück. Am kommenden Montag (19 Uhr) liest Mahlke auf Einladung der Saarbrücker Buchhandlung Raueiser im Schlossfestsaal aus ihrem Roman – ein Gespräch vorab mit der Autorin über ihre Romankonstruktion und die Lehren aus ihren historischen Recherchen.

Während das erste Drittel Ihres Romans 2015 spielt, deckt der Rest, sehr gerafft bis 1919 zurückgehend, ein ganzes Jahrhundert ab. Wieso dieses Missverhältnis? Wäre der Roman sonst aus dem Ruder gelaufen?

MAHLKE Ja, er wäre wohl aus dem Ruder gelaufen, dreimal so lange geworden und ich wohl erst jetzt in der Hälfte angekommen. Mir ging es darum, eine Oberfläche aufzumachen und diese dann aufzubrechen und zu schauen, was darunter liegt.

Der entscheidende Schachzug Ihres Romans besteht darin, die Chronologie der in Teneriffa spielenden Familien- und Politikgeschichte umzukehren. Was steht für Sie hinter diesem Verfahren, das bewährte erzählerische Kausalitäten aushebelt?

MAHLKE Der Ausgangspunkt war die Geschichte Teneriffas – einer Insel, die im letzten Jahrhundert sehr viele Inselgesichter hatte: ökonomisch, politisch, sozial. Am Anfang des 20. Jahrhunderts stand eine globalisierte Insel. Internationale Firmen haben sie damals geprägt. Dann kam die fatale Franco-Zeit, als Teneriffa zu einer gleichgeschalteten Insel wurde, zu einem riesigen Gefängnis. Später prasselte auf diese unter Franco nationalisierte, katholische Gesellschaft dann der Massentourismus ein. Gefolgt von der Re-Demokratisierung der Nach-Franco-Ära, ehe zuletzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Bauboom und die anschließende Kreditkrise folgten. Ich wollte diese verschiedenen Zeitinseln nicht chronologisch zeigen. Weil dies suggerieren würde, dass das eine jeweils aus dem anderen folgte. Tatsächlich hätte es nämlich immer viele andere Entwicklungsmöglichkeiten gegeben. Was wir Geschichtsschreibung nennen, die gesellschaftliche Makro-Ebene, unterschlägt dies oft. Auch auf der Mikro-Ebene des jeweiligen Lebens finden sich solche Konstruktionen wieder, die immer für Kohärenz sorgen sollen. Eigentlich sind wir jeder im Lauf unseres Lebens viele verschiedene Menschen. Als 50-Jähriger erkennen wir unser Selbst als 13-Jähriger oft gar nicht mehr. Das aber wird, glaube ich, deutlicher, wenn man die jeweilige Zeit absolut sein lässt und nur Bezüge nach hinten herstellt, aber nicht nach vorne.

Der Historiker Achim Landwehr zeigt in seinem Buch „Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit“, dass sich Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft unentwegt bedingen: So wie unser heutiger Blick zurück stets interessegeleitet ist, Historie konfektioniert und ihr „Modellcharakter“ zuschreibt, beeinflusst umgekehrt die etablierte Lesart des Zurückliegenden unser Jetzt und Künftiges. Landwehr spricht von einer „Vielzeitigkeit“, die uns umgibt und singuläre „Eigenzeiten“ entstehen lässt. Mir scheint, dass Ihr Roman exakt diese Nicht-Kausalität thematisiert.

MAHLKE Ja, ganz genau. Ich kenne das Buch leider nicht, aber das trifft exakt das, was ich mit dem Roman wollte. Dass also das aktuelle Selbstbild einer Gesellschaft auf die Narration der Vergangenheit zurückwirkt und vieles weggelassen wird, um eine scheinbare Kohärenz herzustellen.

Wenn es so ist, dass wir jeder unser Leben – ausgehend von dem, der wir gerade sind – anpassen, sodass es folgerichtiger erscheint, so heißt das: Wir, besser: unsere Erinnerungen, betrügen uns im Lauf der Jahre, sodass wir eigentlich nie recht wissen, wer wir eigentlich sind. Stand diese Einsicht am Anfang Ihres Romans?

MAHLKE Ja, das war der zentrale Punkt, der mich auch zu der umgekehrten Chronologie geführt hat.

Sie spiegeln ein äußerst wechselvolles Jahrhundert kanarischer Politik zwischen Diktatur und Politik in einem großen Familientableau. Die Reichen, Gutsituierten verstehen es, immer obenauf zu schwimmen; die Mittelschicht findet dank ihres Intellekts wieder ans Licht. Nur die Verlierer sind immer dieselben: die Deklassierten. Wie wichtig war Ihnen diese Roman-Komponente?

MAHLKE Sehr wichtig. Die Schichten sind unterschiedlich betroffen von den politischen Entwicklungen, wie man an den Kanaren sehr gut sehen kann. Bis heute ist Teneriffa eine sehr starke Klassengesellschaft. Gute Schulen sind bis heute Privatschulen. Und gute Ärzte sind Privatärzte. Die ehemalige britische Klassengesellschaft auf Teneriffa hat sich so bis heute erhalten.

Wie lange haben Sie an Ihrem Roman geschrieben? Hat er von Beginn an diese jahrhundertumspannende Anlage gehabt oder womöglich eine ganz andere?

MAHLKE Als ich anfing mit den Recherchen, hatte ich noch keine im Kopf. Als ich dann diese globalisierte Phase Teneriffas Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt habe, war für mich klar, dass ich das rückwärts erzählen muss. Und nicht konventionell chronologisch mit der Illusion, dass sich alles angeblich historisch kausal bedingt hat. Das Rückwärtserzählen zwingt den Leser eher, selbst Verknüpfungen zu erstellen, hoffe ich. Und unsere eigentlich alltägliche Wahrnehmung nochmal besser nachzuvollziehen, dass wir erst einmal nur die Oberfläche eines Menschen kennen und sehr vieles nicht verstehen, was er tut. Menschen sich aber eher entschlüsseln, sofern man nach und nach auch ihre vergangenen Schichten erkennt.

Eine der wunderbarsten Romanfiguren ist der zu Beginn 96-jährige Julio, Pförtner im Altenheim. Mit seiner Geburt 1919 endet Ihr Roman dann. Sie beschreiben den ebenso skurrilen wie ungemein herzlichen Umgang der Alten inmitten des von Nonnen geführten Altenheims. Julios Enkelin Rosa beginnt dort einen Freiwilligendienst. Und entdeckt in der steten, gewissenhaften Arbeit der Nonnen eine Art Gegenmodell zur sonstigen Vordergründigkeit und Verlogenheit der Gesellschaft. Ein Schlüsselmotiv Ihres Romans?

MAHLKE Ich sehe das etwas anders. Rosa, ein typisches Kind der Postmoderne, entdeckt bei den Nonnen eine Verbindlichkeit des Handelns. Die Relativität unserer Zeit führt, glaube ich, heute zu einer Sehnsucht nach solcher Verbindlichkeit. Aber Rosa macht aus dieser Erfahrung dann wieder ein Kunstprojekt und damit aus etwas Authentischem letztlich wieder etwas Konsumierbares.

Wenn Sie all die Interviews und Lesungen im Zuge des großen Hypes um den Deutschen Buchpreis absolviert haben, wird der damit verbundene wirtschaftliche Erfolg Ihnen mehr Freiheit geben. Wissen Sie schon, wofür Sie diese Freiheit nutzen wollen? Haben Sie Pläne? Oder erst mal den Plan, keine zu haben?

MAHLKE Der Preis nimmt erst mal die Existenzangst, die einen ansonsten immer begleitet. Und es schenkt mir einfach Zeit. Seit 2010 habe ich vier Romane veröffentlicht und, auch aus wirtschaftlichen Gründen, immer durchschreiben müssen. Jetzt kann ich es mir zum ersten Mal leisten, mal ein paar Monate nicht zu schreiben und mir Zeit zu lassen. Das ist großartig.

Ist so ein Preis bei aller Genugtuung auch Belastung: all die Lesungen, Interviews, Wiederholungen?

MAHLKE Ich bin ja auch erst mal gleich krank geworden danach: eine vorher unterdrückte Grippe, die dann an die Oberfläche kam. Ja, belastend ist es auch. Alleine 50, 60 Lesungen kommen da zusammen.

Lesung nächsten Montag (19 Uhr) im Festsaal des Saarbrücker Schlosses.
Karten (12 €) gibt es beim Veranstalter, der Saarbrücker Buchhandlung Raueiser.
Infos unter www.raueiser.de

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