Bitte mehr Tagträume!

Saarbrücken · Sein Gedichtband „Regentonnenvariationen“ hat gerade den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Nun hat der Lyriker, Übersetzer und Kritiker Jan Wagner in Saarbrücken die traditionelle Rede an die saarländischen Abiturienten gehalten. Was hat er den frisch Reifegeprüften geraten?

 Jan Wagner in der Hochschule für Musik Saar. Foto: Kerstin Krämer

Jan Wagner in der Hochschule für Musik Saar. Foto: Kerstin Krämer

Foto: Kerstin Krämer

Die Schüler "aus ihrer Komfortzone heraus holen": Das soll, wie Christiane Blank von der Unionstiftung in ihrem Grußwort ausführte, die traditionelle "Rede an die AbiturientInnen". Im großen Saal der Hochschule für Musik Saar hielt nun der Schriftsteller Jan Wagner die mittlerweile 18. Ansprache, musikalisch umrahmt von Studenten der Kammermusikklasse. Wagner, Jahrgang 1971, studierte Anglistik in Hamburg, Dublin und Berlin. Er ist seit 2001 als freier Lyriker, Übersetzer, Herausgeber und Kritiker tätig, lebt in Berlin und wurde zigfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt mit seinen "Regentonnenvariationen" erstmals ein Gedichtband den Preis der Leipziger Buchmesse.

Ralph Schock, SR-Literaturredakteur und Initiator der Rede, bescheinigte Wagner, seinen Lesern "Beglückungserfahrungen" zu verschaffen: indem er mit besonderer Neugier und Aufmerksamkeit für seine Umwelt, großer Verständlichkeit und hoher Reimkunst "subversiv und provokativ" lyrische Formen untergrabe. Gleichzeitig rief Schock in Erinnerung, wie Wilhelm Genazino 1999 bei der ersten Rede an die Abiturienten vor den Gefahren eines erstarkenden Rechtsradikalismus gewarnt hatte. Daran knüpfte Kultusminister Ulrich Commerçon (SPD) an mit seinem Appell an die demokratische Verantwortung der reifegeprüften Zuhörerschaft zugunsten von Weltoffenheit und Toleranz.

An ein ganz anderes Wahlrecht appellierte Jan Wagner und forderte die Abiturienten damit gewissermaßen zum Verbleib in der Komfortzone auf: Unter dem Titel "Gedenke der Lücke" hielt Wagner ein schier trunken machendes "Plädoyer für Traum, Narrheit und Nutzlosigkeit" und sang das wollüstige Lied von Spiel, Leidenschaft, Müßiggang und Ungewissheit. Der Begriff "Tagedieb" ist ihm kein Schimpfwort, sondern eine Ehrenbezeichnung: "Die Offenbarung findet immer am Rande statt, unerwartet", lenkte er den Blick auf Kleinigkeiten und empfahl neben dem Reisen und bloß zuschauenden Flanieren auch den Aufenthalt in Gedankenverstecken - um es sich nicht "in den eigenen Überzeugungen bequem zu machen". Dabei demonstrierte er angenehm uneitel eine enorme Belesenheit und elegante Eloquenz: Mühelos schaffte Jan Wagner mit Traumtheorien diverser Literaten und Philosophen den Spagat von der Antike zur Moderne und zog Parallelen zwischen Natur und Literatur.

Dabei machte er die Dauer seiner Rede (40 Minuten) selbst zum Thema, um Zeitverlust in Gewinn umzudeuten und lobte - als Zirkelschluss zu Schock und Commerçon - das Tagträumen ("Was wäre, wenn . . . ?") als Wegweiser zur Toleranz: weil es unterschiedliche Existenzen zulasse und damit Respekt abverlange für andere Lebensläufe.

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