Neue Bücher Die langen Schatten deutscher Raub- und Ausbeutungszüge

Saarbrücken · Bartholomäus Grill, lange Afrika-Korrespondent der „Zeit“ und inzwischen beim „Spiegel“, zeichnet in „Wir Herrenmenschen“ die deutsche Kolonialgeschichte nach.

 Das Buch "Wir Herrenmenschen" von Bartholomaeus Grill

Das Buch "Wir Herrenmenschen" von Bartholomaeus Grill

Foto: Siedler Verlag

Das titelgebende, letzte Kapitel dieser Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte ist zugleich deren Quintessenz. Liest man es als erstes, gewinnt man (leider) einen falschen Eindruck von Bartholomäus Grills Buch: Aufs Ganze betrachtet, ist es nicht so tiefschürfend wie dieses Schlusskapitel. Alle wesentlichen Kernaussagen Grills tauchen auf diesen letzten 25 Seiten mehr oder weniger gebündelt auf. Was nicht heißt, dass man sich den Rest sparen müsste. Doch so pointiert ist das Übrige nicht.

Grill, der 25 Jahre lang Afrika-Korrespondent der „Zeit“ war und inzwischen in gleicher Funktion beim „Spiegel“ ist, zeichnet in seinem Buch die Verwerfungen der deutschen Kolonialherrschaft nach. In Togo, Kamerun, Tansania (ehemals Deutsch-Ostafrika), Namibia (Deutsch-Südwestafrika getauft) und den Niederlassungen des Deutschen Reichs in Papua-Neuguinea sowie dem Pachtgebiet in Kiautschou (China) hat Grill über 20 Jahre hinweg nach Überbleibseln des Kolonialerbes gesucht und Hinterbliebene der von den Deutschen Geschundenen getroffen. Verschiedentlich streut er in seine mal reportagehaften, mal essayistischen Betrachtungen auch wichtige Forschungsliteratur zur deutschen Kolonialgeschichte (1884-1919) ein. Dabei waren, schreibt er, „die Leitgedanken von Edward Said, Stuart Hall, Achille Mbembe und anderen postkolonialen Philosophen (. . . ) meine Begleiter auf der Reise in die postkoloniale Vergangenheit“.

Schon in der Einleitung weist Grill auf ein irreversibles Versäumnis hin: die unterbliebene Befragung der letzten Zeitzeugen zu Lebzeiten. Auch macht Grill klar, dass man die außereuropäische Welt von Berlin aus bis heute häufig mit „imperialen Augen“ betrachte. Inwieweit das rassistische Erbe fortwirkt, macht er etwa an jüngsten Ausführungen des Afrika-Beauftragten von Kanzlerin Merkel, Günter Nooke, fest. Noch im Oktober 2018 schlug dieser vor, in Afrika „Wirtschaftssonderzonen“ einzurichten, in denen man Migranten ansiedeln könne. „Das hieße nichts anderes, als Teile Afrikas wieder unter Kuratel zu stellen“, folgert Grill.

Vorboten der deutschen Kolonialisierung reichen bis 1681 zurück, als an der im heutigen Ghana gelegenen Goldküste einigen Häuptlingen ein zweifelhaftes Abkommen aufgenötigt wurde, mit dem sie die kurfürstliche Oberhoheit über ihr Gebiet anerkannten. Bis zu 30 000 Sklaven verschifften die Preußen hernach nach Amerika. Zwei Jahrhunderte später begründete die Suche nach Rohstoffquellen und neuen Absatzmärkten die ersten deutschen Kolonien. Kapitelweise knöpft sich Grill die von Kaiser Wilhelm II. eingesetzten skrupellosen Statthalter vor: sadistische Tyrannen wie Carl Peters (Deutsch-Ostafrika), Lothar von Trotha (Deutsch-Südwestafrika) oder Paul von Lettow-Vorbeck, den der damalige CDU-Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel noch 1964 zur Leitfigur der Bundeswehr stilisierte.

Ob die Einführung von „Kopfsteuern“, die die Einheimischen faktisch zu ergebenen Leibeigenen machte; ob an der Tagesordnung gewesene Vergewaltigungen in den Privat-Harems der deutschen Gouverneure; ob die perfide Indienstnahme von bis zu 50 000 schwarzen Hilfstruppen („gedrillt, gedemütigt und schließlich ermächtigt, unter den Fahnen einer Terrororganisation, die sich ,Schutztruppe’ nannte, zu töten“); ob die skandalöserweise bis heute zu den Beständen deutscher Völkerkundemuseen gehörenden Raubgüter (zurückgehend auf Grabräuber und Kopfjäger, die die vom Nachweis der vermeintlichen „Minderwertigkeit“ der Afrikaner getriebenen europäischen Rassenforscher mit Menschenmaterial versorgten) oder die fatale Schaffung landwirtschaftlicher Monokulturen und Vertreibung der Subsistenzbauern, unter deren Folgen die alten Kolonien bis heute leiden – Grill skizziert Mal um Mal das perfide Ausbeutungssystem der neuen Herrenmenschen.

Breiten Raum nimmt das dunkelste Kapitel deutscher Kolonialherrschaft ein, der Genozid an den Herreros in Nambia 1904. Ohne den Völkermord bagatellisieren zu wollen, vermutet Grill, dass weit weniger als 60 000 Herrero dabei umkamen.

Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. Siedler, 304 Seiten, 24 €

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