Literatur Roadmovie mit einem Hungerkünstler und einem Großmaul

Saarbrücken · Wolf Haas, bekannt geworden mit seinen grantelnden „Brenner“-Krimis, gelingt mit „Junger Mann“ ein Tankstellen-, Liebes- und Provinzroman in einem.

„Zur Unbeweglichkeit gegipst und mit Süßigkeiten überhäuft“, wird der auf seine frühe Jugend zurückblickende Ich-Erzähler uns in Wolf Haas’ neuem Roman „Junger Mann“ gleich auf den ersten Seiten als langhaariger „dicker Wuzel“ vorgestellt: 95 Kilo (und damit mindestens 20 zu viel) bringt er mit 13 auf die Waage, als er zur Zeit der Ölkrise 1973 im Salzburger Pinzgau an einer Tankstelle als Ferienjobber anheuert. Manchmal kommt der Chauffeur des deutschen Bundespräsidenten (und „Hoch auf dem gelben Wagen“-Barden) Scheel vorgefahren, der in der Nähe eine Villa hat. Und manchmal auch „der Tscho“ – ein ziemlich einsilbiger, aber mit unwiderstehlichem Optimismus gesegneter Schaumschläger, der mit einem Scania-Lkw regelmäßig ins Schah-Land nach Teheran aufbricht, sich vom „dicken Fräulein“ (Tscho über den Erzähler) 1200 Liter Diesel (800 davon in den Zusatztank) in den Laster füllen lässt. Und der vor allem zuhause seine Frau Elsa (20) sitzen hat, in die sich Haas’ aus dem Leib gegangener Held sogleich Hals über Bauch „um den Verstand verliebt“.

Um „dem Tscho“ seine Beifahrer-Prinzessin auszuspannen, beschließt der 13-Jährige, sich wieder mühsam auf Normalgewicht herunterzudiäten. Damit wissen wir schon nach zehn Seiten so ziemlich alles, was sich aus diesem süffisanten Tankstellen- und Provinz- und Liebesroman alles entwickeln wird: zum einen das Porträt eines Hungerkünstlers in einer untergegangenen Zeit, in der es noch Tankwarte, Schlagbäume, Adriano-Celentano-Kassetten, autofreie Tage und den schnurgeraden Balkan-Autoput durch Jugoslawien gab. Und zum anderen eine Art roadmoviehafter Bildungsroman im Zeichen einer dann doch komplexen Dreierkonstellation. Leider strapaziert Haas – bekannt geworden mit seinen „Brenner“-Krimis, aber 2006 mit dem hinreißenden Interview-Roman „Das Wetter vor 15 Jahren“ (und 2012 mit seiner „Verteidigung der Missionarstellung“) bereits ins Nicht-Krimifach hinübergewechselt – den Blick auf die Waage und in Richtung Elsa in der ersten Romanhälfte über Gebühr. Ansonsten aber arbeitet er mit spürbarer Lust und Plaisir das Komik-Potenzial seines Plots ab.

Dass daraus am Ende doch noch mehr als ein putzig herunterzulesender, burlesker Roman wird, liegt ausgerechnet an „dem Tscho“ – denn „Junger Mann“ wächst sich dann zuletzt doch glücklicherweise nicht allein zur amüsanten Adoleszenz-Story aus, sondern gewinnt im zweiten Teil (bei Beibehaltung seines launigen, schnoddrigen Erzähltones) erkennbar an Tiefe. Zusammen mit dem Zahnstocherakrobaten und Nylonstrümpfeschmuggler Tscho bricht Haas Ich-Erzähler dann (mit einer ganzen Reisetasche voller Kuchen seiner Mutter im Gepäck) zu einer Fahrt nach Griechenland auf, die seitenlang äußerst gekonnt beider schleppende Dialoge in der Scania-Fahrerkabine einfängt und dabei einen erzählerischen Realismus zeitigt, der dem Buch sichtlich gut tut.

Warum Tscho, dessen Lieblingsvokabeln „schätzomativ“ und „Die Firma dankt“ lauten, von seinem Beifahrer auf ihrer Grand Tour in den Lebensernst wissen will, wie er’s mit der Religion und dem Jenseits hält („,Ob es etwas gibt!’ sagte der Tscho und deutete mit dem Daumen nach oben.“), hat dann doch tiefere Gründe, deren man im Verlauf bald gewahr wird. Wie es sich für eine knatschbunte Romantorte gehört, steckt Haas zwischendurch aber genügend Kerzchen obendrauf, die hübsch-episodisch abbrennen: Hinter der Grenze etwa lässt er einen „Jugo“ mit perfektem „Jason-King-Bart“ auftauchen, der Tscho die aus dem Reserverad gezogenen Nylonstrümpfe mit barer Münze bezahlt. Oder lässt sein Alter ego (Haas’ Erzähler heißt nicht nur wie er, sondern ist vom selben Jahrgang 1960) vor lauter Reiseglück und Meerseligkeit das Fenster runterkurbeln und Indianerschreie ausstoßen. Dazu biegt Haas erzählerisch immer wieder mal kurzerhand ab oder legt den Rückwärtsgang ein, sodass wir im Rückspiegel nicht den Anschluss verlieren, wie es in der Elsa-Junger Mann-Annäherung zwischenzeitlich eigentlich steht: Er bringt ihr Englisch bei und besteigt dabei allmählich eine andere (nein, keine fleischliche) Beziehungsebene.

Um Elsa aber geht es eigentlich sowieso nicht. Sondern darum, wie sich aus den Zweien im Scania auch ohne viele Worte („Ich nickte nur auf die Art, wo man den Kopf vorher hob und danach zurücksinken ließ. Umgekehrtes Nicken. Gesagt habe ich kein Wort“) zuletzt eine Art Freundschaft entspinnt. So konsistent und reduziert, wie Haas dies szenisch dicht erzählt, wird daraus am Ende noch ein gutes Buch. Weshalb man zuletzt kaum entscheiden kann, was nun der hinreißendste pars-pro-toto-Satz darin ist. Der Schlusssatz?: „Rückwärts durch die Knie betrachtet, war die Welt schon immer am Interessantesten.“ Oder doch der auf Seite 190, der wie das verborgene Leitmotiv dieses Romans klingt?: „Wie immer im Leben hieß ,Was willst du machen’, dass man nichts machen kann.“ Ja, der.

Wolf Haas: Junger Mann. Hoffmann & Campe, 240 Seiten, 22 €.

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