Auf den Spuren jüdischer Kultur in Polen

Saarbrücken · Im Oktober 2014 wurde in Warschau ein Museum eröffnet: „Polin - Museum der Geschichte der polnischen Juden“ genannt. „Polin“ ist der hebräische Name Polens. Das Museum versucht zu retten, was nach der Zerstörung jüdischer Kultur in Ostmitteleuropa geblieben ist. Das versucht auch der in Saarbrücken aufgewachsene Autor Lothar Quinkenstein in seinem im St. Ingberter Röhrig Verlag erschienenen Band „Erinnerung an Klara Blum“ mit Essays und Kritiken. Der Saarbrücker Germanist Gerhard Sauder hat den Band für uns besprochen.

Der Buchtitel "Erinnerung an Klara Blume" will nicht etwa an die Kommissarin des Konstanzer Tatorts Klara Blum erinnern, sondern an eine gleichnamige Dichterin aus der Bukowina, die Gedichte in Jiddisch verfasste. Lothar Quinkenstein, der das Buch schrieb, ist ein Entdecker historischer Doppeldeutigkeiten: im Saarland aufgewachsen, haben ihn Ausflüge mit den Eltern früh nach Nancy zur "Place Stanislas" geführt. Dass dort ein Platz und ein Denkmal dem letzten König der Polen gewidmet wurden, wurde Quinkenstein erst klar, als er in Mielec, drei Bahnstunden von Krakau entfernt, 1994 eine Stelle als Deutschlehrer in einem Lyzeum antrat. Polnisch musste er dort erst lernen. Die von seinem Schulort aus besuchten Städte und Dörfer, Lektüren und Gespräche brachten ihm die schwierige Geschichte Polens näher.

Bei der Entstehung seines neuen Buches spielte die "SZ" eine Rolle. Der Autor besprach dort 2013 die Erinnerungen des Saarbrücker Rabbiners Schlomo Rülf "Ströme in diesem Land" (Röhrig Verlag). Beim Lesen dieses Buches seien ihm die "Topographien zusammengeflossen", hätten sich überblendet, erzählt er: Saarbrücken, die Stadt seiner Kindheit, und die untergegangene jüdische Welt Polens. Die Erfahrungen in Polen haben Quinkenstein gelehrt, sich in "Texten" aufzuhalten, "als seien es die Orte einer Landkarte". Er liest die Orte wie wie Schichten aus Schrift. Ihm bedeutet Topographie vor allem Geschichte. Er will die Wahrheit des Geschehenen aus den Kulturlandschaften in der Mitte Europas ans Licht bringen.

Dies gelingt ihm in seinen gesammelten Essays und Kritiken durch viele Beispiele - überwiegend handelt es sich um polnische oder tschechische Autoren jüdischer Herkunft. Sie haben ihre Romane in Polnisch, ihre Gedichte meist in Jiddisch geschrieben. Die Rede ist von Jan Faktor, Sylvia Chutnik, Jerzy Ficowski, Irena Bre{zcaron}ná, Brigitta Helbig, Eva Hoffmann, Jiøi Mordechai Langer (Kafkas Hebräischlehrer), Klara Blum, Itzik Manger, Debora Vogel, Józef Czapski und Bogdan Wojdowski, dessen Roman "Brot für die Toten" (dt. 1974) in gnadenloser Genauigkeit die Einrichtung des Warschauer Ghettos durch die deutsche Besatzung und das erbarmungslose Leben hinter der Ghettomauer seit Oktober 1940 evoziert.

Alles dreht sich in diesem Werk um Erinnerung - nach Ruth Klüger die jüdischste aller Beschäftigungen. Der Roman Wojdowskis erschien wie die Texte anderer Autoren in deutscher Übersetzung meist in der DDR. Hierzulande wurden sie kaum beachtet und sind heute vergessen - mit einer Ausnahme: Bruno Schulz (1892-1942), dem Quinkenstein ein eigenes Kapitel widmet. Schulz' literarisches Hauptwerk, "Zimtläden", erschien zuerst 1934 und wurde erst 1957 in Krakau wieder veröffentlicht. Erst seit der polnischen "Wende" gehört Schulz' Prosa zum Kanon des Polnischunterrichts. Quinkenstein deutet sie mit Hilfe neuester polnischer Analysen im Zusammenhang mit Schulz' Rezeption jüdisch-kabbalistischer Literatur, vor allem des "Sohar" (Buch des Glanzes). Bruno Schulz sei kein Autor des romantisierten "Schtetls", eher ein Anwalt der jüdischen Aufklärung (Haskala), folgert er.

Quinkenstein hat die Jahre in Mielec von 1994 an zu einer höchst persönlichen Erinnerungszeit an Polens Geschichte genutzt. Zum Erlernen der Sprache kamen die bei uns kaum wahrgenommenen prägenden Ereignisse Polens im 20. Jahrhundert, die ihm in zahlreichen Gesprächen durch die Kollegen im Lyzeum nahegebracht wurden, vor allem die Bedeutung der Vernichtung des Warschauer Ghettos (1943), des von der deutschen Besatzung niedergeschlagenen Warschauer Aufstands (1944) und die Funktion der polnischen Heimatarmee als Staat im Untergrund. Der Zusammenhang polnischer Geschichte mit der jüdischen in Polen bis zur Ausrottung von Millionen in Auschwitz lasse sich nur als "Verflechtungsgeschichte" beschreiben. Die assoziative Evokation der polnisch-jüdischen Geschichte prägt die Kapitel seines Buches. Der Leser wird immer wieder durch erstaunliche Zusammenhänge überrascht. Diese Essays und Kritiken stellen einen gewichtigen Beitrag zur Kenntnis der polnisch-jüdischen Geschichte dar. Lothar Quinkenstein: Erinnerung an Klara Blum. Essays und Kritiken aus der Mitte Europas. Röhrig Universitätsverlag St. Ingbert, 310 S, 22,80 €

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