Berlinale Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf?

Berlin · Berlinale: Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland glänzt mit ihrem historischen Drama „Mr. Jones“.

(kna) Am dritten Tag der Berlinale brillierte die Grande Dame des polnischen Kinos Agnieszka Holland mit „Mr. Jones“, einem packenden historischen Drama über Terror und Wahrheit in der Zeit der großen Diktaturen. Gareth Jones hat wirklich gelebt. Er gehörte zu den wenigen westlichen Journalisten, die Anfang der 1930er in die Sowjetunion reisten und wahrheitsgemäß von den dortigen Ereignissen berichteten. Andrea Chalupas hervorragendes Drehbuch setzt den jungen Mr. Jones (James Norton) mitten in das Tauziehen um die politische Wahrheit über das Mutterland der sozialistischen Revolution: Stimmen die Berichte über den Hunger in der Ukraine? Zum einen geht es um die Fakten, zum anderen um die Pflicht, davon zu berichten. Schnell zeigt sich: Der „Fake News“-Präsident Donald Trump ist nicht der Erste, der Wahrheit als rein ideologische Größe betrachtet.

Während ihn das Moskauer Regime mit vorgeblichen Beweisen des landesweiten Wohlstands zu umgarnen versucht, bleibt Jones misstrauisch. Es gelingt ihm, sich von einer offiziellen Informationsreise in die Ukraine abzusetzen. Was er dann erlebt, zeigt Holland in furchtbar eindringlichen Szenen: Auf den Straßen liegen die Leichname der Verhungerten, Bauern schlagen sich um ein Stück Brot, Leichensammler werfen einen lebenden Säugling auf ihren Karren. In einem verlassenen Dorf stößt der Brite auf drei Kinder. Es dauert einen Moment, bis er begreift, dass das Fleisch, das sie ihm zu essen geben, aus dem Körper ihres verhungerten Bruders geschnitten wurde.

Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? Dass die sowjetischen Machthaber Hunger als Waffe gegen die Bauern der Ukraine eingesetzt haben, ist eine historische Tatsache. Doch Agnieszka Holland weiß, dass die Wahrheit, bevor sie als solche erkennbar wird, ausgesprochen, aufgeschrieben, gelesen werden muss. So ist Jones‘ Kampf um die Publikation seiner Erkenntnisse genau so packend wie sein Weg durch die ukrainische Hölle. Die Sowjets nehmen mehrere Briten als Geiseln, um Jones zu erpressen, die britische Regierung erinnert ihn an elementare wirtschaftliche Interessen („Sie haben Ihr Vaterland verraten“), ein korrupter Pulitzer-Preisträger stellt den jungen Kollegen als unfähig dar. Und dennoch gilt, was Jones seiner mutigen Kollegin Ada Brooks (Vanessa Kirby) zuruft: „Es gibt nur eine Wahrheit.“

Im offiziellen Russland wird der meisterliche Film mit Sicherheit nicht auf Sympathie stoßen. Seit vielen Jahren übt sich der Nachfolgestaat der Sowjetunion im Vergessen der Stalin-Gräuel; Putin und seine Medien haben dafür gesorgt, dass der Diktator wieder Kultstatus genießt. Wer heute auf den Holodomor, den Hungerkrieg gegen die Ukraine, verweist, muss mit gravierenden Folgen rechnen. „Mr. Jones“ beweist, dass sich historische Wahrhaftigkeit mit ästhetischer Größe verbinden lässt. Es lohnt sich, sich dem Kampf um die Geschichte zu stellen.

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