„Tanzfestival Saar“ eröffnet Affen-Roboter und einsame Liebende

Saarbrücken · Der Saarbrücker Ballettchef Stijn Celis und der Gastchoreograph Shahar Biniamini lieferten mit „Intensität“ einen herausfordernden Start für das „Tanzfestival Saar“.

 Beunruhigend und bildgewaltig: „,Mensch“ von Shahar Biniamini mit dem Saarbrücker Tanzensemble.

Beunruhigend und bildgewaltig: „,Mensch“ von Shahar Biniamini mit dem Saarbrücker Tanzensemble.

Foto: Martin Kaufhold

Vermutlich hat das Publikum den rätselhaftesten und  beunruhigendsten Abend des „Tanzfestivals Saar“ jetzt bereits hinter sich. Bis 8. Mai werden noch sechs Compagnien und Tanzsprachen auf diesen Eröffnungsabend folgen. Viele Produktionen, die der Saarbrücker Ballettchef Stijn Celis eingeladen hat, sind „Masterpieces“ – erprobte Meisterstücke großer Choreographen. Insofern nimmt sich die Programmsetzung mutig aus, am Donnerstag in der Alten Feuerwache mit zwei Uraufführungen zu starten, die sich zudem als nicht eben leicht zugänglich erwiesen.  Für den Abend mit dem Titel „Intensität“ teilte sich Celis die Bühne mit dem jungen israelischen Choreographen Shahar Biniamini. Ihre Stücke ähnelten sich, denn sie verweigerten beide die vertraute Narration, zeichneten sich durch eine hohe assoziative Offenheit aus. Zugleich standen sie in höchstem Kontrast zueinander. Celis huldigte der Entschleunigung, Biniamini entfesselte einen Wirbelsturm.

 Mit „Amore“ des Saarbrücker Ballettchefs Stijn Celis wurde das Tanzfestival Saar am Donnerstag in der Alten Feuerwache eröffnet.

Mit „Amore“ des Saarbrücker Ballettchefs Stijn Celis wurde das Tanzfestival Saar am Donnerstag in der Alten Feuerwache eröffnet.

Foto: Martin Kaufhold/Martin Kaufhold;0049(0)171/4158942

Als nahezu unentschlüsselbar entpuppte sich „Amore“ von Celis. Das Stück lehnt sich an das  Werk „Liebe“ (1971) der französischen Literatin Marguerite Duras an. Es vollzieht sich auf leerer Bühne, im fahl beleuchteten Dauer-Halbdunkel, wird  untermalt von raunender, percussionlastiger Elektro-Musik (Lorenzo Bianchi Hoesch), ist streng, pur, von schroffer Schmucklosigkeit. Die Atmosphäre traumwandlerisch, die Tonlage elegisch. Damit bewegt sich Celis zweifelsohne ganz dicht  an Duras‘  minimalistischem Stil.

Andererseits reißt er durch eine ganz eigene Versuchsanordnung die Brücke zum Text auch wieder ein. Er baut nicht die Dreiecksgeschichte der Autorin nach – zwei Männer und eine Frau, die sich am Meer bewegen –, sondern schickt einen Mann  (Eduardo Cino) und drei Frauen (Alexandra Christian, Melanie Lambrou, Isabella Taufkirch) auf eine ortlose Szene. Drei  spiegelartige Rechtecke werden zu maßgeblichen Mitspielern – das Meer?  Doch im Kern ist „Amore“ das Solo eines Einsamen. Cino agiert als zentrale Figur, tritt in unattraktivem, lässigem Schlabberlook auf (Kostüme: Catherine Voeffrey), spricht auch viel. Französisch? Italienisch? Man versteht ihn nicht. Die drei nixenartigen Frauen berühren ihn kaum. Für sie hat Celis sehr feierliche Sequenzen choreographiert. Sie scheinen der Welt entrückt, während die Körpersprache des Mannes mit Alltagsgesten gesättigt ist. Cino absolviert einen tänzerischen Bravourauftritt, zeigt ein unfassbar vielfältiges Bewegungsrepertoire: Wahrlich, die Erfindungskraft   des Saarbrücker Compagniechefs ist imposant. Doch sein Hang zur Verschlossenheit ebenso. Den Schlüssel zum anspielungsreichen Privatkosmos in  „Amore“, wir finden ihn nicht.

Als sperrig lässt sich auch das zweite Stück des Abends charakterisieren. Jedoch entwickelt die  exzessive, extravagante Arbeit „Mensch“ von Shahar Biniamini bereits nach wenigen Minuten eine soghafte Faszination.  Wir erleben eine schockhafte Begegnung mit einer neuen Spezies. Was sind das, bitte, für merkwürdige Wesen, die den leeren, weißen Tanzboden bevölkern? Stammt die androgyne Horde aus Ur-Zeiten oder aus der Zukunft? Die Körper der zwölf Tänzer stecken in fleischfarbenen Kostümen (Biniamini/Romi Faylo), die Nacktheit suggerieren und merkwürdigerweise sofort provozieren.  Männer wie Frauen tragen künstliche Brüste, die Genitalien und die Pospalte sind mit schwarzglänzenden „Masken“ knapp verhüllt und zugleich obszön betont. Die Münder, oft zu stummen Schreien aufgerissen,  gähnen als schwarz bemalte Löcher – eine Affenphysiognomie.  Immer sind alle zugleich anwesend, eine Masse – wirklich Mensch? Eher mechanisch aneinander vorbei agierende Roboter-Tiere. Wie Amphibien kriechen sie, wie Stammestänzer stampfen sie, wie Menuett-Tänzer drehen sie sich am Ende, als durchlebte die Gruppe einen Evolutionsprozess.  Wobei sich das Zeitlupenhafte des Beginns in einen immer schnelleren, drängenden  Rhythmus hinein entwickelt. Eine  gewaltige Dynamik wird frei gesetzt.  Auch die Techno-Musik-Collage vollzieht diese Steigerung mit, rüttelt uns durch, nähert sich an mit Helikopter-Dröhnen oder Autobahnlärm.   Man kennt das Überwältigungsprinzip nur zu gut, aus Strawinskys Ballett „Sacre du printemps“. Und tatsächlich lässt sich Biniaminis Arbeit als eine Art „Sacre 4.0“ begreifen. Ohne Zweifel obwaltet hier ein ähnlich  wildes, archaisches  Prinzip, für das der junge Choreograph frappierend originelle deformierte Bewegungsmuster findet – eine Art Grotesktanz in der Tradition einer Vaneska Gert.  Nichts gehorcht hier Harmoniegesetzen, nichts ist berechenbar, jede Figur, jede Bewegung erscheint aufregend neu, ist ein Solitär.

Das Saarbrücker Ensemble absolviert diesen Parforceritt mustergültig, amalgiert Energie und Präzision – fabelhaft! Was ist das für ein pulsierender Kosmos des Bizarren! Potzblitz, hat man sowas je gesehen?! Das Publikum reagierte enthusiastisch. Wie schön, dass man dieses kurze, druckvoll vorbeirauschende Werk jederzeit wieder anschauen kann. Denn der Tanzfestival-Beitrag  „Intensität“ steht von jetzt an auf dem Spielplan.

Termine: 10., 27., 31. Mai; Karten:
Tel. (06 81) 309 24 86.

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