Der US-amerikanische Schriftsteller Philip Roth ist tot Menschenfreund, Macho und Zyniker

Saarbrücken · Männliche Begierde und Sexualität, jüdisches Leben und Amerika waren die Themen, um die seine Bücher kreisten. Am Dienstag starb der vielfach preisgekrönte Schriftsteller Philip Roth mit 85 Jahren in New York.

Schon zu seinen Lebzeiten hielten ihn 77 Prozent seiner Landsleute für den größten Schriftsteller ihrer Zeit, und das obwohl – oder weil – er nie Rücksicht auf ihre Überzeugungen und Empfindlichkeiten genommen hatte. Philip Roth war national wie international eine Institution, eine Legende. Er wurde immer wieder als „größter Schriftsteller unserer Zeit“ (Guardian) bezeichnet und bekam fast alle großen Literaturpreise vom National Book Award bis zum Pulitzerpreis. Dass er nie den Literaturnobelpreis erhielt, hat eher die Stockholmer Akademie als Roths Ruhm beschädigt. Die hält die großen alten Männer der US-Literatur bekanntlich für oberflächlich, national borniert und zu wenig „idealisch“.

Philip Roth war tatsächlich nie Idealist oder gar politisch korrekt (in „Der menschliche Makel“ läuft Coleman Silk Amok gegen das verdruckste Gutmenschentum und damit ins offene Messer der Moralisten), aber es gibt keinen US-Autor, der schonungsloser mit sich und seinem Land ins Gericht ging.

Ausgestattet mit lebhaftem Temperament, heiligem Zorn („Wut ist dazu da, dich kampffähig zu machen“ heißt es in „Mein Mann, der Kommunist“) und einem langen epischen Atem, kam Roth dem Ideal der „Great American Novel“, des großen Gesellschaftsromans, in dem sich alle Hoffnungen, Träume und Enttäuschungen seiner Zeit bündeln, näher als jeder andere Autor seiner Generation, John Updike eingeschlossen. Wie sein großer Rivale war auch Roth ein Vertreter der weißen Mittelschicht, und wie für Updikes Jedermann Rabbit hatte auch für Roths Alter Ego Nathan Zuckerman die Sexualität eine fast religiöse Dimension: „Nur beim Sex ist man voll und ganz lebendig, mit Sex übt man Vergeltung am Tod.“ Aber Roth war weder ironischer Puritaner noch repräsentativer Großschriftsteller wie Updike, sondern das Enfant terrible der jüdischen Ostküsten-Intelligenz: Sein Horizont war weiter, sein Witz bitterer, sein Drang zur Selbstentblößung größer, sein Schreiben radikaler. Das machte ihn zum roten Tuch für konservative Juden und patriotische weiße Amerikaner, aber auch für die 68er und Feministinnen.

Philip Roth dachte und schrieb immer in seiner Dreifaltigkeit als Amerikaner, Jude und Mann. Seine – durchweg männlichen – Helden sind leidenschaftliche Liebhaber und Hasser, Spieler und Spötter, die stets aufs Ganze gehen und doch Masken des Autors bleiben. Die Namen wechselten: Mal war er Alexander Portney, der tragikomische Frauenheld, der seinem Psychiater seine Sexsucht und seine grotesken Schuldgefühle beichtet, mal der Literaturwissenschaftler David Kepesh, der „Professor der Begierde“, der davon träumt, in eine weibliche Brust verwandelt zu werden (ein jüdischer Witz, der von Kafka hätte sein können und auch Woody Allen inspirierte). Neun Mal trat Roth als Nathan Zuckerman auf, ehe er 2008 in „Exit Ghost“ melancholisch, aber freundlich-bestimmt Abschied von seinem guten Geist und bösen Schatten nahm.

31 Romane entstanden so seit „Goodbye Columbus“ (1958): Skandalumwitterte Erfolgsromane wie „Portnoys Beschwerden“, wütende Dystopien wie „Verschwörung gegen Amerika“, meisterliche Selbstporträts wie „Sabbaths Theater“, giftige persönliche Abrechnungen mit seinen beiden Ehefrauen oder US-Präsidenten wie Nixon und Bush. In seinen frühen Romanen legte Roth als Psychoanalytiker Amerika und den jüdischen Schuldkomplex auf die Couch und aufs Kreuz; in seiner mittleren Phase schrieb er autobiografische Vexierspiele und große Familien- und Gesellschaftsromane wie „Amerikanisches Idyll“. In seinem Spätwerk scheute er auch nicht davor zurück, sich als impotenter, inkontinenter alter Mann mit unvermindertem Triebleben zu zeigen.

In Romanen wie „Der menschliche Makel“, „Exit Ghost“ oder „Das sterbende Tier“ besang Roth manchmal ziemlich penetrant die Liebe zwischen alten Männern und jungen Frauen. Spätestens mit dreißig, schrieb Roth einmal, wird „Sex als Widerstand gegen den Tod“ zum Kampf. Das Alter empfand er als „Massaker“. In seinen letzten Romanen, „Jedermann“ (2006), „Empörung“ (2009), „Die Demütigung“ und „Nemesis“ (beide 2010), kehrte er als gereifter, altersweiser Mann noch einmal zu seinen Anfängen zurück: Zu den zornigen jungen Männer aus Newark, die sich gegen Gott, Vater und Amerika empören und grausam dafür bestraft werden. Roth war Menschenfreund und Zyniker, Macho und zärtlicher Liebhaber, orthodoxer Jude und wütender Antisemit, Kommunist und Liberaler, Atheist und gläubig, aber immer „Philip Roth“. „Ihr Medium für die wirklich gnadenlose Selbstausweidung, Ihr Medium für echte Selbstkonfrontation bin ich“, schrieb sein Zuckerman in einem Brief an den „lieben Roth“. Immer wenn man Roths Scharaden zu durchschauen glaubte, drehte er die Schrauben der Metafiktion noch einmal an und entzog sich allen autobiografischen Lesarten. Nie war er mehr Lügner, als wenn er die nackten „Tatsachen“ oder sein wahres „Leben als Sohn“ zu erzählen behauptete.

1933 in Newark, der Arbeiterstadt bei New York, als Sohn eines jüdischen Versicherungsangestellten geboren, machte Roth so sein ganzes Leben zum Material seiner Romane und blieb dabei doch auch sich selber ein Rätsel. Er hasste die Journalisten und Biografen, die im Privatleben der Schriftsteller herumschnüffeln, aber er wusste auch: „Die Nase am Saum der Unterwäsche, das ist das Wesen des Schriftstellers, Unreinheit“. So verwandelte Roth selbst seine Eitelkeiten und Peinlichkeiten in große Kunst.

Schon 1972 hatte Roth sich aus New York auf seine Farm in Connecticut zurückgezogen, und die Stilisierung zum menschenscheuen Einsiedler war mehr als nur Koketterie. 2012 verkündete Roth einer verblüfften Öffentlichkeit, er höre mit dem Schreiben ganz auf und werde fortan nur noch die alten Meister lesen, Conrad, Hemingway und natürlich Kafka: „Schreiben ist tägliche Frustration, von der Demütigung ganz abgesehen.“ Niemand wollte ihm so recht glauben; schließlich hatte Roth seit seinem Abschied von der Armee 1956 wie besessen Roman um Roman geschrieben, sieben Tage die Woche, von morgens um neun bis nachmittags um fünf. „Wenn ich an einem Buch schreibe, bin ich lebendig. Wenn ich nicht schreibe, komme ich mir vor wie ein Wagen, dessen Räder im Schnee durchdrehen.“ Aber Roth hielt tatsächlich Wort: Auf dem Höhepunkt seines Könnens und seines Weltruhms gab er den „Kampf mit dem Schreiben“ auf. Er bereute seinen vorzeitigen Ruhestand nie; „geistige Lebhaftigkeit und verbale Energie“ könne man nicht ewig konservieren. Am Dienstag ist Philip Roth mit 85 Jahren im Kreise seiner Freunde in New York gestorben.

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