Baukultur Das Saarland, „ein gelobtes Land des neuen Bauens“

Saarbrücken · Am Sonntag schließt die Saarbrücker „Resonanzen“-Schau über das Bauen im Grenzgebiet – bei dieser Historie spielt eine findige Forbacher Firma eine große Rolle.

 Mit ihrem Plattenbausystem eroberte die Forbacher Baufirma Camus-Dietsch in den 60ern auch den saarländischen Markt.

Mit ihrem Plattenbausystem eroberte die Forbacher Baufirma Camus-Dietsch in den 60ern auch den saarländischen Markt.

Foto: Marco Kany / Resonanzen/Marco Kany

„Das zerstörte Saarland war nach Kriegsende für Architekten und Stadtplaner ein gelobtes Land des neuen Bauens“, heißt es in der Ausstellung „Resonanzen“, die noch bis einschließlich Sonntag dem gemeinsamen baukulturellen Erbe von Deutschen und Franzosen in der Grenzregion Saarland-Lothringen aus der Nachkriegszeit nachspürt. Die Schau macht aber auch deutlich, dass von vielen utopischen Bau- und Stadtplanungsvorhaben der neuen französischen Urbanisten rund um Georges-Henri Pingusson nur wenig verwirklicht wurde.

Aus vielerlei Gründen. Auch im Wohnungsbau, der nach dem Krieg zu einer der wichtigsten Bauaufgaben wurde. Was den Architekten versagt blieb, gelang einem anderen französischen Gespann. Hieß es doch, angesichts der Zerstörungen möglichst schnell für möglichst viele Menschen ein neues Obdach zu schaffen. Dafür brauchte man neue, rationellere, industrielle Bauweisen. Genau das lieferte das Bauunternehmen Camus-Dietsch. Raymond Camus, einstiger Citroen-Ingenieur, hat die rationellen industriellen Konstruktionsmethoden der Autoindustrie auf den Hochbau übertragen: Er entwickelte ein patentiertes Plattenbausystem, bei dem Gebäudeteile als Betonschwertafeln mit allen Gewerken in der Fabrik vorgefertigt wurden und auf der Baustelle nur noch zusammengesetzt werden mussten. Das war schnell und kostengünstig. Da Camus seinen ersten Großauftrag für Siedlungen von den verstaatlichten Grubengesellschaften in Lothringen erhielt, suchte er sich den Saargemünder Bauunternehmer Fred Dietsch als Partner und gründete 1953 in Forbach-Marienau ihre Firma.

Innerhalb von nur fünf Jahren bauten Camus-Dietsch mit ihrem Fertigteil-System die Großsiedlung Farébersviller mit 1678 Wohnungen, es folgten Behren mit 2600 Wohneinheiten und Freyming-La Chapelle mit 1068 Wohnungen. „Heute spricht man verächtlich von Plattenbauten – aber man muss sehen, wie die Leute damals wohnten“, sagt der Forbacher Architekt Jean Marie Helwig, Mitglied des Ausstellungs-Teams. In Lothringen lebten sie nach dem Krieg in Kellern und Baracken, auf einmal hatten sie fließend Wasser, Badewanne und Heizung und viel Licht. Camus-Dietsch versuchte auf den deutschen Markt zu expandieren – was lag da näher als das Saarland? 1961 bat der Saarbrücker Stadtrat um einen Termin zur Fabrikbesichtigung. Der führte zum ersten Vertrag über den Bau von 984 Wohnungen auf der Folster Höhe. Baubeginn war am 18. März 1963, schon am 15. Oktober wurden die Wohnungen bezogen.

Nachdem Camus-Dietsch mit sechs Saar-Architekten ein Büro in Saarbrücken gründete, folgte ein Auftrag nach dem anderen. Zeitweise schuf Camus-Dietsch als Quasi-Monopolist im Plattenbau jede zehnte saarländische Neubauwohnung. Die Forbacher bauten das 23-Geschoss-Hochhaus in Saarlouis, Hochhäuser in Neunkirchen, auf dem Saarbrücker Rodenhof, auf dem Eschberg, aber auch immer mehr Zweckbauten: das Sportzentrum mit Schwimmbad, Restaurant und Sauna in Dudweiler, das Sanatorium in Weiskirchen, das Peugeot-Verwaltungshaus in Güdingen und viele mehr. Da Bauwillige im Saarland zunehmend zum Eigenheim tendierten, passten sich die Forbacher an und stellten ab 1964 erstmals Einfamilien-Musterhäuser in Saarbrücken aus. Je nach Bedarf in Größe und Ausstattung variabel, schlüsselfertig ausgestattet und in nur ein bis zwei Tagen fertig montiert, fanden sie viele Abnehmer. Weil viele Saarländer es wünschten, fertigte man die damals großzügig und modern wirkenden Flachbauten auch mit Satteldach.

 Konnten die Forbacher die schweren Betontafeln für Hochhäuser aus Gewichtsgründen nur bis zu 40 Kilometer mit LKW transportieren, so lieferten sie die leichteren Bauteile für Ein- und Zweifamilienhäuser bald auch bis Luxemburg und Mainz. Letztlich waren es die hohen Transportkosten (durch die Ölkrise) und der enorme Anstieg der Kreditzinsen, die dem Forbacher Unternehmen Anfang der 1980er den Garaus machten. Das Ende galt aber nicht für den Plattenbau nach dem Camus-System. Durch den Verkauf von Lizenzen entstanden ab 1958 Produktionsfirmen in Hamburg, in Wien, in der Slowakei. Von dort ging der Siegeszug in die Sowjetunion – und von dort in die DDR.

Finissage: Sonntag, 30.Dezember, 17 Uhr, im Pigusson-Bau.

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