Kultur-Wandel-Struktur-Region

Essen/Dortmund. "Zu uns kommt man als Gast. Und geht als Kumpel!" Solcher Agentur-Unfug wird von "Ruhr.2010", die das Ruhrgebiet als Europas Kulturhauptstadt vermarktet, auch produziert. Dass die allzu wohlfeil Gepriesenen tatsächlich das Lob verdienen, gehört jedoch zu den lohnendsten Entdeckungen für alle, die aus diesem Anlass erstmals im einstigen Kohlenpott waren

Essen/Dortmund. "Zu uns kommt man als Gast. Und geht als Kumpel!" Solcher Agentur-Unfug wird von "Ruhr.2010", die das Ruhrgebiet als Europas Kulturhauptstadt vermarktet, auch produziert. Dass die allzu wohlfeil Gepriesenen tatsächlich das Lob verdienen, gehört jedoch zu den lohnendsten Entdeckungen für alle, die aus diesem Anlass erstmals im einstigen Kohlenpott waren. Das war schon bei der Fußball-WM 2006 so: Wer damals da war, kam gerne wieder, ergaben spätere Umfragen. Als häufigster Grund wurde die Freundlichkeit der Bewohner genannt. Da lassen die Besucherzahlen (fünf Millionen laut Ruhr.2010-Halbzeitbilanz; die unverdächtigen Landesstatistiker melden für das erste Halbjahr fast zwölf Prozent mehr Touristen im Revier) jedenfalls auf nachhaltige Außenwerbung hoffen.Die ruppig-zugewandte Mentalität kommt an. Viele schildern "Kommse ma mit, dat is gleich da vorne"-Erlebnisse. Das "A 40-Stillleben", die Sperrung der Verkehrsachse B 1 auf 60 Kilometern zwischen Dortmund und Duisburg, war insofern die optimale Gelegenheit, auf Tuchfühlung zu gehen. Drei Millionen kamen am Sonntag vor der tragischen Love Parade (auch sie als Millionen anlockendes Event von Ruhr.2010 erwünscht), um auf der autofreien B 1 pure Revier-Alltagskultur zu erleben."Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel", das Motto von Ruhr.2010, mag da irreführend klingen, und doch ist einiges dran. Denn es gibt immens viel zu sehen im einst schmutzigen Moloch der Kohle- und Montanindustrie. Deren Niedergang kostete nicht nur Millionen Jobs, sondern machte auch ihre zuvor "verbotenen" Areale zugänglich. Kilometerlange Werke wie die Gutehoffnungshütte in Oberhausen wurden zwar abgerissen, aber vieles, etwa die zum Weltkulturerbe avancierte Zeche Zollverein in Essen, ist nun alternativ genutztes Relikt. Vorreiter dieser Erschließung der "Strukturwandel"-Region war 1989 bis 1999 die Internationale Bauausstellung Emscherpark, an die Ruhr.2010 anschließt, etwa mit dem neuen RuhrMuseum in der nach Rem Koolhaas' Plänen umgebauten Kohlenwäsche auf Zollverein. Zum Kulturhauptstadtjahrbeginn eröffnet, bleibt es einer der Ankerpunkte der Region.Ebenfalls in Essen kam 2010 David Chipperfields imposanter Neubau des Folkwang Museums dazu, das für die exquisite Sammlung nun gebührend Platz hat und parallel Sonderausstellungen zeigen kann, die traditionell Besucher in Massen locken. Auch Dortmund bekam mit dem Umbau des riesigen Brauereiturms am Hauptbahnhof zum "Dortmunder U" im Kulturhauptstadtjahr ein markiges neues Zentrum dazu, in dem das Ostwallmuseum im Herbst endlich genügend Platz für seine Bestände findet. Die Ansätze sind ambitioniert, was daraus wird, bleibt abzuwarten. Die vollmundigen Ankündigungen des "Europäischen Zentrums für Kreativwirtschaft" tragen die Handschrift von Ruhr.2010-Kreativdirektor Dieter Gorny, dessen Formulierungen in puncto Nachhaltigkeit mancher "Ruhri" als Sprechblasen eines bald weiterziehenden Dampfplauderers sieht. Nicht alle Kulturhauptstadtjahrbeteiligten können nach dessen Ende wie Dortmund und Essen bleibende Schwergewichte für sich verbuchen. Aber in den von Geldnot geplagten und bisher wenig Stadtgrenzen-überschreitend agierenden Orten hat die Erfahrung der gemeinsamen Vermarktung den Kooperationswillen gestärkt. Dessen Nachhaltigkeit muss sich indes ebenfalls erst erweisen. Das Jahr mit den kaum übersehbar vielen, teils auch kulturfolkloristischen Veranstaltungen und Installationen bringt nicht zuletzt den 5,3 Millionen Bewohnern der Region viel. Darunter die Entdeckung, dass sie sogar eine "Insel" haben, einen 40 Kilometer langen Streifen von Castrop-Rauxel bis Oberhausen, den der Rhein-Herne-Kanal und der einstige Abwasserfluss Emscher umgeben. Das 100-Tage-Programm "Emscherkunst" mit Temporärem und Bleibendem wie der Aufstockung des ummauerten Nordstern-Zechenturms, auf den dann Markus Lüpertz' 18 Meter hohe "Herkules"-Skulptur kommt, erschließt die Insel, bietet Kurzweil und Kunstspaß. Vor allem aber lädt es ein, die hervorragenden Radwege für Ausflüge zu nutzen, die durch imposant viel Grün im Ballungsraum führen. Einheimische werden das in Zukunft noch intensiver nutzen und Zugereiste staunen, was möglich ist. Insoweit hat also das Kulturhauptstadtjahr schon jetzt Augen geöffnet.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort