Justizopfer Norbert Kuß Experte: Gutachten war grob fahrlässig

Saarbrücken/Marpingen · Das Urteil im Schmerzensgeld-Prozess des Justizopfers Norbert Kuß fällt am 23. November. Der Sachverständige Max Steller sprach eine vernichtende Kritik über die Arbeit der Homburger Gutachterin.

 Norbert Kuß (links) saß unschuldig im Gefängnis. Mit seiner Anwältin Daniela Lordt klagt er im Berufungsprozess um Schmerzensgeld.

Norbert Kuß (links) saß unschuldig im Gefängnis. Mit seiner Anwältin Daniela Lordt klagt er im Berufungsprozess um Schmerzensgeld.

Foto: BeckerBredel

„Eine exzellente Gutachterwahl“ bescheinigte sich im Berufungsprozess um Schmerzensgeld für das Marpinger Justizopfer Norbert Kuß (74) gestern Dieter Barth, Vorsitzender Richter des vierten Zivilsenates am Oberlandesgericht (OLG). Mit „besonderer Akribie und einer gewissen Demut“ hat der international anerkannte Glaubhaftigkeitsexperte, Professor Max Steller vom Institut für Forensische Psychiatrie an der Berliner Charité, sich einem früheren Gutachten seiner Homburger Kollegin Professor Petra Retz-Junginger gewidmet.

Auf Basis dieses Gutachtens war der pensionierte Bundeswehrbeamte Kuß im Jahr 2004 von einer Strafkammer des Landgerichts wegen sexuellen Missbrauchs seiner damaligen Pflegetochter zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. 683 Tage saß Kuß damals hinter Gittern. Unschuldig. Wegen dieses Fehlurteils standen er und seine Familie in der Folge wiederholt vor dem Ruin. Erst nach einem langwierigen Wiederaufnahmeverfahren durch alle Instanzen wurde das Urteil aufgehoben und Kuß 2013 rechtskräftig freigesprochen.

Steller ließ gestern bei der Beweisaufnahme vor dem Oberlandesgericht keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Homburger Gerichtspsychologin Retz-Junginger mit ihrem damaligen Gutachten in dem Missbrauchsprozess mangelhafte und grob fehlerhafte Arbeit abgeliefert habe. „Es tut mir leid, das so grob zu sagen.“ Er habe ganz „erhebliche ergebnisrelevante Mängel“ festgestellt. Das Transparenzgebot sei verletzt und falsche Schlussfolgerungen gezogen worden. Die erhobenen Daten und Befunde sowie das Ergebnis, dass die Aussage des lernbehinderten Mädchens mit hoher Wahrscheinlichkeit glaubhaft gewesen seien, passten nicht zusammen. Retz-Junginger habe gegen schon damals bekannte und veröffentlichte Standards für aussagepsychologische Gutachten, die vom Bundesgerichtshof (BGH) bestätigt wurden, verstoßen. Steller: „Das geht so nicht!“ Aus seiner Sicht, so der renommierte Sachverständige, waren die Fehler definitiv vermeidbar gewesen: „Da liegt grobe Fahrlässigkeit vor.“

Fast eine Stunde lang erläuterte Steller, der bereits zu einem früheren Termin von dem Senat gehört worden war, sein Ergänzungsgutachten und nahm zu einem umfangreichen Fragenkatalog von Rechtsanwalt Stephan Krempel, der die beklagte Gutachterin vertritt, Stellung. Neu in dem Verfahren, dessen erste mündliche Verhandlung im Januar 2016 war, ist jetzt der Saarbrücker Rechtsanwalt Gerhard Fritz. Er vertritt Professor Michael Rösler, den Direktor des Homburger Universitätsinstitutes und Chef von Retz-Junginger. Deren Prozessbevollmächtigter hat dem Klinikchef den Streit verkündet, damit dieser im Fall von erfolgreichen Regressforderungen ebenfalls in Haftung genommen werden kann. Rösler soll das umstrittene Gutachten seiner Kollegin abgezeichnet und versichert haben, er sei auf Grund eigener Urteilsbildung damit einverstanden.

Für Justizopfer Kuß zeichnet sich nach dem eindeutigen Votum des Sachverständigen Steller ein lange erkämpfter Erfolg vor dem OLG ab. Eindeutige Aussagen von Richter Barth lassen sich nur so deuten, beispielsweise der Hinweis an Anwältin Daniela Lordt, die Kuß vertritt: „Für Sie ist es ja gut gelaufen.“

Kuß und Lordt gaben sich nach knapp zweistündiger Verhandlung „sehr zufrieden“. Das Landgericht hatte Kuß bereits in erster Instanz 50♦000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen. Der Streit vor dem OLG geht derweil um die ursprüngliche Forderung von 80♦000 Euro. Weitere Schadensersatzforderungen stehen noch aus.

Der Senat will sein Urteil am 23. November verkünden und dann auch entscheiden, ob Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) zugelassen wird. Krempel signalisierte bereits, auf jeden Fall den BGH anzurufen, gegebenenfalls mit einer Beschwerde.

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