Irrungen und Wirrungen

Meinung · Im Internet kommentierte ein Blogger das Kölner Beschneidungsurteil so: "Keine Frage, Deutschland hat sich radikal verändert. Vor 70 Jahren zerbrach man sich den Kopf darüber, wie man jüdische Jungs umbringen kann, heute macht man sich Sorgen um ihre körperliche Unversehrtheit"

Im Internet kommentierte ein Blogger das Kölner Beschneidungsurteil so: "Keine Frage, Deutschland hat sich radikal verändert. Vor 70 Jahren zerbrach man sich den Kopf darüber, wie man jüdische Jungs umbringen kann, heute macht man sich Sorgen um ihre körperliche Unversehrtheit". Ein anderer ergänzte leicht sarkastisch: "Stimmt, heute schützt man in Deutschland die Juden sogar vor sich selbst." Nun wird man der Kölner Justiz bei ihrer Urteilsfindung gewiss keine antijüdischen oder antimuslimischen Motive unterstellen können - wenngleich die Entscheidung nicht allein böse Erinnerungen wachruft, sondern vermutlich auch alte Ressentiments neu entfesselt. Die Beschneidung diente bereits dem Christentum lange Zeit als eine Rechtfertigung seiner antijüdischen Justierung. Ein Baustein des Antisemitismus war die Diskriminierung dieses Rituals in der Vergangenheit also allemal.Den Kölner Richtern ging es freilich um eine "humane" Abwägung: Für sie hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit Priorität vor dem Recht auf religiöse Freiheit und dem Erziehungsrecht der Eltern. Dass ein Gericht "religiösen Auswüchsen" Einhalt gebieten will, ist nachvollziehbar und vernünftig. Aber zählt dazu in der Tat die männliche Beschneidung? Andere Gerichte haben etwa mit Verweis auf eine mögliche Stigmatisierung in der eigenen Religionsgemeinschaft anders entschieden. Nun herrscht heillose Rechtsverwirrung - auch, weil dem Kölner Gericht gravierende Irrtümer beim Abwägen unterliefen: Zum einen unterlagen sie einer eklatanten Unterschätzung der Bedeutung der Zirkumzision für Judentum und Islam. Das Beschneidungsritual als "Beitritt zum Bund Gottes" lässt sich im Judentum keinesfalls auf ein tradiertes archaisches Religionsgesetz reduzieren. Es gilt vielmehr auch einer überwältigenden Mehrheit säkularer Juden als unverzichtbares identitätsstiftendes Fundament. Vor diesem Hintergrund ist der Einwand, das Urteil mache jüdisches - wie auch muslimisches - Leben in Deutschland unmöglich, keine Übertreibung. Nicht wirklich plausibel ist zugleich die richterliche Begründung, die Beschneidung laufe dem "Interesse des Kindes, später selbst über eine Religionszugehörigkeit zu entscheiden, zuwider". Zwar sind fast alle Juden und Muslime beschnitten, umgekehrt sind aber bei weitem nicht alle Beschnittenen Juden oder Muslime. Die Zirkumzision steht also einer späteren Konversion ebensowenig im Wege wie die Taufe. Jetzt gilt es, Juden und Muslimen schnellstmöglich Rechtssicherheit zu bieten. Ein anderes Gericht, vermutlich Karlsruhe, wird erneut abzuwiegen haben. Bestätigt es das Verbot, das weltweit einmalig wäre, tut es dies in vollem Bewusstsein, einen jüdisch-muslimischen Exodus zu riskieren. Die Folgen für Deutschland mag man sich nicht ausmalen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort