Intime Gespräche auf der Parkbank

Milena Michiko Flaar ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, lebt nach sprach- und literaturwissenschaftlichen Studien als Schriftstellerin in Wien und wählt für ihr stilles Buch einen japanischen Schauplatz. Einer der beiden auf der Parkbank ist der junge Ich-Erzähler, ein "Hikikomori"

Milena Michiko Flaar ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, lebt nach sprach- und literaturwissenschaftlichen Studien als Schriftstellerin in Wien und wählt für ihr stilles Buch einen japanischen Schauplatz. Einer der beiden auf der Parkbank ist der junge Ich-Erzähler, ein "Hikikomori". In einem hilfreichen japanisch-deutschen Glossar erklärt die Autorin den Begriff: "So werden in Japan Personen bezeichnet, die sich weigern, das Haus ihrer Eltern zu verlassen, sich in ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Familie auf ein Minimum reduzieren. Als hauptsächlicher Grund gilt der große Leistungs- und Anpassungsdruck in Schule und Gesellschaft". Der andere ist ein arbeitslos gewordener "Salaryman", ein Angestellter, der nach Jahrzehnten zuverlässiger Arbeit von seiner Firma entlassen wurde und seiner Frau nichts davon erzählt. Sie bereitet ihm täglich das Essen zu, das er mit zur Arbeit nehmen soll. Die sitzt er auf der Parkbank ab. Punkt sechs Uhr am Abend steht er auf und fährt nach Hause. Er trägt zur "Arbeit" immer eine rot-grau gestreifte Krawatte. "Ich nannte ihn Krawatte" erinnert sich der Hikikomori, der - als er eines Tages sein Kinderzimmer heimlich verlässt, auf dieser Parkbank landet. Zunächst ihm gegenüber, bald neben ihm, sitzt die "Krawatte" und beide fallen, weil sie sich an allen Arbeitstagen dort treffen, von stummem Begrüßungsnicken allmählich in bekennende, befreiende Gespräche über ihre Situation. Der Leser atmet leiser, wenn er die scheue Annäherung der beiden miterlebt. Zerbrechlich ist das langsam wachsende Vertrauen, in das man Seite für Seite diskret einbezogen wird. Der Rezensent wird dieses Vertrauen nicht verraten. Es kommt bei diesem kleinen 140 Seiten starken Roman darauf an, beim eigenen Lesen von der Autorin mit auf die Parkbank gebeten zu werden. Man wird dieser literarischen Einladung ebenfalls nur scheu folgen, wird die zunächst stumme Intimität, dann die im Verlaufe der zwischen den beiden einsetzenden Gespräche nie geschwätzig werdende Unterhaltung nicht stören wollen. Zu sehr kehren beide ihr Innerstes hervor, gewinnen sich dadurch selbst zurück. Später taucht die Geschichte ein in das turbulente japanische Leben, endet traurig und schön, großzügig und erlösend. Das Buch ist in 114, meist nicht mehr als eine Seite umfassende Abschnitte unterteilt. Wer es in diesen kleinen Portionen lesen kann, ist ein Asket. halMilena Michiko Flaar: Ich nannte ihn Krawatte. Wagenbach, 140 Seiten, 16,90 €

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
In der Reihe "Kaum auf der Welt, schon im Merkur" stellt der Pfälzische Merkur regelmäßig neue Erdenbürger vor, die im Evangelischen Krankenhaus in Zweibrücken das Licht der Welt erblickten. Heute ist es Arjanit Beqiri. Er kam am 22. Juni um 17.43 Uhr auf
In der Reihe "Kaum auf der Welt, schon im Merkur" stellt der Pfälzische Merkur regelmäßig neue Erdenbürger vor, die im Evangelischen Krankenhaus in Zweibrücken das Licht der Welt erblickten. Heute ist es Arjanit Beqiri. Er kam am 22. Juni um 17.43 Uhr auf