"In Wirklichkeit war es noch brutaler"Düsteres Duell: Funktioniert Kurnaz' Geschichte als Film?

Herr Kurnaz, Sie sagten kürzlich, es gäbe Schlimmeres als Guantanamo. Wenn man den Film gesehen hat, kann man sich kaum vorstellen, was man einem Menschen Schlimmeres antun könnte . . ..Kurnaz: Der Eine verliert seine Frau im jungen Alter, ein anderer sein Kind - für jeden ist wohl der eigene Fall der Schlimmste. Man sollte das nicht gegenüberstellen

 Nach der Uraufführung in Saarbrücken: "Fünf Jahre Leben"-Regisseur Schaller, Kurnaz und Anwalt Bernhard Docke (v.l.). Foto: bub

Nach der Uraufführung in Saarbrücken: "Fünf Jahre Leben"-Regisseur Schaller, Kurnaz und Anwalt Bernhard Docke (v.l.). Foto: bub

Herr Kurnaz, Sie sagten kürzlich, es gäbe Schlimmeres als Guantanamo. Wenn man den Film gesehen hat, kann man sich kaum vorstellen, was man einem Menschen Schlimmeres antun könnte . . ..

Kurnaz: Der Eine verliert seine Frau im jungen Alter, ein anderer sein Kind - für jeden ist wohl der eigene Fall der Schlimmste. Man sollte das nicht gegenüberstellen. Schlimm ist schlimm.

Tagelange Folter durch Licht, Kälte und Hitze, Schläge - Der Film zeigt die Brutalität im Lager schonungslos. Entsprechen die Szenen der Realität?

Kurnaz. Ja, in Wirklichkeit war es sogar noch brutaler.

Es wird auch gezeigt, dass es so etwas wie Haftalltag nicht gab . . .

Kurnaz: Richtig, jeder Tag war anders, man wusste nie, was passiert. Das war auch der Grund, warum sie uns nicht in den USA gehalten haben, sondern in Guantanamo. Das Lager ist ein gesetzloses Gebiet, dort konnten sie mit uns machen, was sie wollten.

Die meisten Häftlinge verlassen Guantanamo als gebrochene Menschen. Sie wirken gefestigt, was hat ihnen geholfen?

Kurnaz: Mein Glaube. Dafür bin ich Gott sehr dankbar.

Herr Docke, der Film endet im Frühjahr 2003. Da war Kurnaz' Martyrium aber noch lange nicht beendet. Wie ging es weiter?

Docke: Herr Kurnaz wurde im August 2006 entlassen. Bis dahin ist er auch weiterhin gefoltert worden, obwohl die Amerikaner intern davon ausgingen, dass er unschuldig ist und ihn schon 2002 an Deutschland loswerden wollten. Nach der Freilassung haben wir über den BND-Untersuchungsausschuss erfahren, dass die Deutschen die Möglichkeit hatten, ihn frei zu bekommen, aber die Chance nicht nutzten. Das ist politisch und moralisch ein ganz schweres Versagen der damaligen Bundesregierung. Man hätte ihn rausholen müssen und - egal was man ihm vorwirft - in Deutschland unter rechtsstaatlichen Bedingungen überprüfen lassen müssen.

Es gab Untersuchungsausschüsse und Ermittlungsverfahren zu dem Fall. Wie ist der juristische Stand der Dinge heute?

Docke: Nach alledem sind wir zum Schluss gekommen, dass wir keine juristischen Aktivitäten gegen die damalige Bundesregierung anstrengen, weil wir befürchten müssen, dass wir aus Beweisgründen verlieren. An viele Unterlagen über Sachverhalte, für die wir die Beweislast haben, kommen wir nicht ran, weil sie gesperrt sind. Dennoch haben wir die Hoffnung, dass wir eines Tages in den USA eine Klage auf Schadensersatz anbringen können, was derzeit gesetzlich nicht möglich ist. Außerdem läuft in Spanien ein Verfahren, an dem Herr Kurnaz beteiligt ist, das sich gegen die sechs Top-Juristen der Bush-Administration richtet, die damals die Dämme für Folter geöffnet haben. Das wird wohl nicht dazu führen, dass die USA die Verantwortlichen an Spanien ausliefern, aber möglicherweise dazu, dass sie die USA nicht mehr verlassen können, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden.

Herr Schaller, wenn man das hört, könnte man meinen, der Stoff eigne sich vor allem für ein Justizdrama. Sie haben einen anderen Zugang gewählt. Warum?

Schaller: Der juristische Aspekt ist natürlich spannend, daraus hätte man auch einen Film machen können. Ich habe aber gemerkt, das für mich etwas anderes wichtig ist: Viele Leute, mit denen ich über den Fall gesprochen habe, stellten sofort Fragen wie "War da nicht doch was? Warum reiste der nach Pakistan?" Das hat mich geärgert. Herrn Kurnaz wurde nie ein ordentliches Verfahren gemacht, man konnte ihm nichts nachweisen. Trotzdem wurde immer wieder über Verdächtigungen berichtet. Jemand, der so stark ist, dass er so etwas übersteht, dem muss man schon erstmal eine Schuld nachweisen, bevor man vorverurteilt. Mir geht es mit dem Film nicht darum, diesen Menschen als ein Engel darzustellen, sondern als jemanden mit Emotionen, mit einer ungeheuren Kraft, die ihn das überstehen lässt.

Wie entgeht man der Gefahr, eine fünfjährige Lager-Haft zu verfilmen, ohne redundant zu werden?

Schaller: Aus dem Ablauf "Verhöre, Folter, Einsperren, Verhöre, Folter, Einsperren" lässt sich tatsächlich nicht so leicht eine filmische Struktur gewinnen. Die Hauptarbeit war es, Wege und Bilder für das Grauen zu finden, es über Erzählungen in sich zu spüren, nicht einfach die Kamera draufzuhalten.

Sie haben dafür das Konstrukt einer Beziehung zwischen Kurnaz und einem Vernehmer konstruiert.

Schaller: Natürlich gab es in der Realität nicht nur einen Vernehmer. Für das, was ich zeigen wollte, Kurnaz' Überlebenskraft, habe ich diesen Kniff einer menschlichen Beziehung gebraucht.

Herr Kurnaz, hat sich jemals jemand bei Ihnen entschuldigt?

Kurnaz: Ja, aber niemand, der in meinem Fall wirklich verantwortlich war.

Herr Steinmeier als damaliger Kanzleramtschef etwa . . .

Kurnaz: Er sagte, entschuldigen müsse man sich nur für eine falsche Tat und in einem ähnlichen Fall würde er künftig wieder genauso verhalten.

Wie empfinden Sie diese Aussage?

Kurnaz: Was soll ich dazu sagen? Er ist immer noch in der Politik, er wurde nie zur Rechenschaft gezogen, er darf weitermachen wie bisher.

Hatten Sie, als Obama an die Macht kam, die Hoffnung, dass er das Lager schließen würde?

Kurnaz: Nein. Mir war von Anfang an klar, dass Obama mit solchen Ankündigungen einfach nur die Wahlen gewinnen wollte. Und das hat sich bestätigt. Schläge, Demütigungen, Isolationshaft - Regisseur Stefan Schaller schont die Zuschauer nicht. Dass er sich dennoch nicht alleine auf die verstörende Kraft der Bilder verlässt, macht den Film über das Schicksal des Ex-Häftlings Murat Kurnaz zu einem der stärksten im Wettbewerb. Schallers Erzähl-Faden ist ein Duell zwischen Kurnaz und dem fiktiven Verhörspezialisten Gail Holford, dessen mimisches Wechselspiel zwischen Häme, Wut, Über- und Unterlegenheit Ben Miles großartig umsetzt. Der Kniff - die Brutalität der Folter und Kurnaz' Vorgeschichte - immer wieder in der düsteren Szenerie eines Verhörraums münden zu lassen, wo diese beiden Männer ihren psychologischen Ringkampf austragen, macht "Fünf Jahre Leben" zu einem spannenden, beklemmenden Thriller. Kaum zu glauben, dass die eine Million Euro teure, professionelle Produktion eine Diplomarbeit ist. jkl

Heute, 15 Uhr, Sonntag, 10.45 Uhr, jeweils im Cinestar.

Auf einen Blick

Im Oktober 2001 fliegt der Bremer Deutsch-Türke Murat Kurnaz im Alter von 19 Jahren nach Pakistan. Nach eigenen Angaben, um den Islam besser kennenzulernen. Dort wird er von den Amerikanern als mutmaßlicher Taliban-Anhänger gefasst, erst nach Afghanistan, dann ins US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba gebracht. Er wird im Drahtkäfig gefangen gehalten und gefoltert. Schon 2002 hält die US-Regierung Kurnaz für unschuldig und bietet Deutschland an, ihn freizulassen.

 Sascha Alexander Gerak spielt Murat Kurnaz. Foto: Zorro Film

Sascha Alexander Gerak spielt Murat Kurnaz. Foto: Zorro Film

 Nach der Uraufführung (von links): "Fünf Jahre Leben"-Regisseur Stefan Schaller, Murat Kurnaz und Anwalt Bernhard Docke. Foto: bub

Nach der Uraufführung (von links): "Fünf Jahre Leben"-Regisseur Stefan Schaller, Murat Kurnaz und Anwalt Bernhard Docke. Foto: bub

Das zuständige Gremium im Kanzleramt, dem auch der heutige SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier angehörte, lehnt seine Rückkehr mehrfach ab. Erst 2006 fliegen ihn die Amerikaner nach Deutschland aus. Sein Schicksal beschäftigte zwei Untersuchungsausschüsse. Inzwischen trägt Kurnaz keinen langen Bart mehr, ist Familienvater und lebt in Bremen. jkl

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