Missbrauch in Italien kein Thema Vor der Tür des Papstes ist es verdächtig ruhig

ROM (dpa) Was sein Leben ruiniert hat, steht auf seinem T-Shirt: „Mit neun Jahren missbraucht“. Von einem Priester in Rom. In der italienischen Hauptstadt steht Piero Brogi nun mit seinen mittlerweile 55 Jahren unweit des Petersdoms und kämpft um die Aufmerksamkeit der Passanten und um Gerechtigkeit.

Doch Brogi und seine Gruppe von Missbrauchsopfern gehen im Touristentrubel unter, schon bald werden sie von der Polizei aus dem Blickfeld des Vatikans verbannt.

In Deutschland, Chile oder den USA hat der in der katholischen Kirche großes Aufsehen erregt und das Pontifikat von Papst Franziskus in eine tiefe Krise gestürzt. Doch im Vorhof des Vatikans ist es verdächtig ruhig. Wie ist es möglich, dass es in dem Land, in dem rund 35 000 katholische Priester leben, bislang keinen einzigen Skandal gab? Dabei sind Fälle belegt. Im Institut Provolo bei Verona zum Beispiel wurden taubstumme Kinder jahrzehntelang von Priestern missbraucht. Trotzdem blieb der große Aufschrei aus. „Für pädophile Priester ist Italien eine Insel des Glücks“, sagt Francesco Zanardi vom Opferverband Rete l‘Abuso. Der Verband bietet Betroffenen nicht nur Hilfe an, er hat auch online Listen verurteilter oder verdächtigter Priester und eine Karte mit „unsicheren Pfarreien“ veröffentlicht. Weil es in Italien bislang keine offizielle Datenbank gibt, die die Fälle erfasst, sei man gezwungen, sich selbst zu kümmern. Zanardi wirft auch den nationalen Medien vor, das Thema zu ignorieren. Wenn es ein Fall in eine Zeitung schafft, wird er meist nur im Lokalteil abgehandelt. Aber auch die Politik schweige. Die Kirche in Italien gelte als unantastbar – und die Opfer blieben sich selbst überlassen.

Brogi hat seine Geschichte auf der Internetseite von Rete l‘Abuso ausführlich geschildert: „Die Erinnerungen an meine Kindheit waren immer ein Mysterium.“ Brogi erlebte eine exzessive Jugend, er wurde heroinabhängig, schaffte den Absprung, zog nach Paris und heiratete. Doch irgendetwas stimmte nicht. „Ich war verwirrt, Opfer eines Durcheinanders, das lange zurückliegt.“ Erst, als er eine Psychotherapie begann, fand er seine Erinnerung wieder. Schmerzhafte, im tiefsten Innern versteckte Erinnerungen. Es war eine Amnesie, die das Trauma des Missbrauchs ausgelöst hatte, die ihn mehr als 50 Jahre seines Lebens glauben ließen, alles wäre ziemlich normal.

Geschichten wie seine sind keine, die man sich gerne anhört. Und diese Tatsache ist Teil der Erklärung, die der deutsche Pater Hans Zollner dafür hat, dass es in Italien bislang keinen Missbrauchsskandal gibt. Obwohl jede Woche, jeden Monat neue Fälle bekannt werden. „Es gibt keine einfache Erklärung“, sagt der Jesuit, der an der Päpstlichen Gregoriana-Universität in Rom lehrt und als Experte für den Schutz von Minderjährigen gilt. „Ich denke, es hat mit der Sensibilisierung einer Gesellschaft und der Fähigkeit, über ein Thema zu sprechen, zu tun, das sehr, sehr traurig und sehr, sehr schwer ist für die ganze Gesellschaft.“ In Deutschland sei lange dasselbe passiert. Der Moment der Explosion dieser Bombe, dieser mediale Tsunami sei einfach nicht gekommen. Aber er kam dann doch, allerdings sorgten erst 2010 Berichte über Missbrauch in Elite-Internaten und schließlich ein veröffentlichter Brief des Rektors des Canisius-Kollegs in Berlin über ihm bekannt gewordene Fälle landesweit für Aufsehen und traten eine Debatte los.

Die italienische Gesellschaft leugne das Problem in gewisser Weise noch immer, sagt Zollner. Das zeige sich auch daran, dass #MeToo keine hohen Wellen geschlagen habe.

„Italien ist ein Pädophilen-Paradies geworden“, meint Brogi. Der Papst ändere daran nichts. „Der Fisch stinkt vom Kopf. Das Zentrum ist immer das Letzte, das explodiert.“

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