Interview Stefan Körzell Rund 300 000 Tarifverträge seit 1949

Berlin · 70 Jahre nach der Einführung des Gesetzes schließen immer weniger Arbeitgeber Tarifverträge ab.

 Tarifexperte und Gewerkschafter Stefan Körzell

Tarifexperte und Gewerkschafter Stefan Körzell

Foto: picture alliance / dpa/Rainer Jensen

Heute vor 70 Jahren ist das Tarifvertragsgesetz in Kraft getreten. Es regelt die Rahmenbedingungen für Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. In den letzten 20 Jahren ist die Tarifbindung allerdings deutlich gesunken. Was sich dagegen tun lässt? Darüber spricht Gewerkschafter Stefan Körzell, Tarifexperte und seit 2014 Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Herr Körzell, was nützt das beste Gesetz, wenn es in der Praxis immer weniger Anwendung findet?

KÖRZELL Erst mal muss man daran erinnern, wie wichtig dieses Gesetz ist. Seit dem Inkrafttreten wurden gut 300 000 Tarifverträge in Deutschland abgeschlossen. Das heißt, mehr als 300 000 Mal haben Arbeitgeber und Gewerkschaft ohne politisches Zutun die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen für Millionen Beschäftigte und Auszubildende geregelt. Das ist doch ein Grund zum Feiern.

Trotzdem: Heute werden nur noch 57 Prozent der westdeutschen Beschäftigten nach Tarif entlohnt, fast 20 Prozent weniger als im Jahr 1998. Im Osten sieht es noch trüber aus. Was ist da schief gelaufen?

KÖRZELL Immer mehr Arbeitgeber schlagen sich in die Büsche und schließen keine Tarifverträge mehr ab, obwohl sie weiter einem Arbeitgeberverband – dann allerdings als Mitgliedschaft ohne Tarifbindung – angehören. Die gleichen Leute beklagen sich dann, dass der Gesetzgeber in die Lohnfindung eingreift; Stichwort Mindestlohn. Man kann nicht Mitglied eines Tennisclubs sein, aber dort Fußball spielen wollen. Das ist ein grobes Foul.

Müssen sich nicht auch die Gewerkschaften den Schuh der sinkenden Tarifbindung anziehen? Früher hatten sie jedenfalls deutlich mehr Mitglieder.

KÖRZELL Ja, es gab Rückgänge. Die Entwicklung hat viel zu tun mit dem Outsourcing ganzer Betriebsbereiche, aber auch mit den Veränderungsprozessen in der ehemaligen DDR. Gewerkschaften waren dort zeitweilig sogar verpönt. Regierungen haben mit niedriger Tarifbindung Ansiedlungspolitik gemacht. Mittlerweile steigen die Mitgliederzahlen wieder leicht an. Klar ist: Gute Tarifverträge gibt es nur dort, wo es viele Gewerkschaftsmitglieder gibt. Das eine bedingt das andere.

Wo hakt es darüber hinaus?

KÖRZELL Die öffentliche Hand vergibt im Jahr Aufträge für Firmen im Umfang von 400 Milliarden Euro. Das sind 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wir sagen: Öffentliche Aufträge dürfen nur an tarifvertragsgebundene Betriebe gehen und nicht dorthin, wo Dumpinglöhne gelten. Und schließlich müssen Tarifverträge nach der Aufspaltung von Unternehmen so lange gelten, bis für die entstandenen Teilbereiche neue Tarifverträge abgeschlossen sind.

Und wie können die Gewerkschaften wieder attraktiver werden?

KÖRZELL Durch eine innovative Tarifpolitik. Beispiel Wahlmodelle: In einigen Branchen können sich die Beschäftigten inzwischen für mehr Geld oder mehr Freizeit entscheiden. Das kommt gut an. Vorstellbar sind auch Bonusregelungen nur für Gewerkschaftsmitglieder. Bei Firmentarifverträgen geht das schon, zum Beispiel Einmalzahlungen oder extra Urlaub. Für die Fläche fehlt noch eine rechtliche Grundlage. Wir müssen das Tarifvertragsgesetz auch in Zukunft mit Leben füllen. Das stärkt auch den sozialen Zusammenhalt.

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