Hoffen auf ein „Wintermärchen“

Was sagt der Umgang mit Migranten über unsere Gesellschaft aus? Was ist von den Stereotypen zu halten, die kursieren? SZ-Redakteur Christoph Schreiner sprach darüber mit dem Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Sozialforschung, Wolfgang Kaschuba.

 Integrationsforscher Wolfgang Kaschuba. Foto: SWR/Nachtcafé

Integrationsforscher Wolfgang Kaschuba. Foto: SWR/Nachtcafé

Foto: SWR/Nachtcafé

Basiert die jetzige Flüchtlingswelle mit auf einer Lüge der US-Regierung von 2003, die den 2. Irakkrieg heraufbeschwor, in dessen Folge der Nahe Osten destabilisiert und der Islamismus gestärkt worden sind?

Kaschuba: Ja, es gibt da ganz intensive Zusammenhänge. Die so genannte Flüchtlingskrise ist nicht primär von den Akteuren in der Region selbst ausgelöst worden, sondern in der Tat unter dem Einfluss weltpolitischer Interessen. Auch die USA haben Schuld daran, indem sie neue Konfliktlinien schufen.

Die World Food Organization hat erklärt, dass die enormen Kürzungen ihrer Hilfsprogramme durch die internationale Staatengemeinschaft im Spätsommer die Syrer aus den Flüchtlingslagern in Nahost nach Europa brachten. Hunger trieb sie her. Was folgt daraus?

Kaschuba: Das ist ein humanitärer Skandal. Die Lebensbedingungen in den umkämpften Regionen wie in den Flüchtlingslagern sind miserabel. Politisch betrachtet, war und ist diese unzureichende Versorgung dumm und kurzsichtig, weil die Leute keinesfalls so leicht und schnell ihre Heimat verlassen, wie mancher bayerische Provinzpolitiker denkt. Würden wir ihnen ein Durchhalten vor Ort in den Lagern ermöglichen, so wäre das strategisch gesehen ein unglaublicher Gewinn. Weil weniger fliehen müssten und würden.

Also sind die hiesigen Probleme auch hausgemacht, weil es den Hilfsorganisationen und Anrainerstaaten an Hilfe fehlte?

Kaschuba: Die Unterstützung von Ländern wie dem Libanon und der Türkei, die sehr viel mehr Flüchtlinge aufnehmen als wir, hätte sehr viel früher beginnen müssen. Auch hierzulande wurde viel falsch gemacht. Wir haben eine lange und reiche Einwanderungsgeschichte, die zu lange verleugnet und erst seit einigen Jahren langsam offiziell akzeptiert wird. Daher konnten wir bisher viel zu wenig aus ihr lernen.

Inwieweit steht hinter den Vorbehalten gegenüber Flüchtlingen, die es genauso gibt wie Toleranz und Hilfsbereitschaft, die Angst vor Identitätsverlust?

Kaschuba: Das ist ein altes deutsches Trauma, geboren im 19. Jahrhundert, als wir sehr spät Nation geworden sind und uns in die Kultur gerettet haben. Das Kulturverständnis, das so entstand, war immer eng und auf kulturelle Bildung und ethnische Homogenität angelegt. So entstanden Bilder, die heute von Rechtspopulisten mobilisiert werden können. Wobei es interessanterweise dort, wo die heftigsten Pegida-Bewegungen bestehen, oft die wenigsten realen Erfahrungen mit Flüchtlingen gibt.

Eine Studie Ihres Instituts besagt, dass Erwachsene in Ostdeutschland mehr Vorbehalte gegenüber Muslimen haben als ostdeutsche Jugendliche, obwohl von den 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund nur 500 000 im Osten leben, die Deutschen dort also wenig Umgang mit Ausländern haben. Wie ist das zu erklären?

Kaschuba: Das hängt damit zusammen, dass Jugendliche heute international unterwegs sind und über das Internet eine offene Welt kennen, bei der Alltage und Erfahrungen eine große Rolle spielen. Wenn die ältere Generation fragt, "woher kommst Du?", ist das die Frage nach Pass und ethnischer Zugehörigkeit. Während Jugendliche sich eher nach Lebensstil, Geschmack und Freundschaften erkundigen. "Wer bist Du?" wird bei jungen Menschen nicht mehr im Sinne von "Wer musst Du sein?" gebraucht, es meint oft "Wer willst Du sein?"

Von der Rolle der Religion bis zur Kriminalität sind viele Stereotypen über Ausländer in Umlauf. Was zeigen empirische Studien? Relativieren oder stützen sie solche Vorurteile?

Kaschuba: Migration und Integration wird in Deutschland bislang weniger erforscht als die Bienenvölker. Sowohl frühere Migrationsbewegungen als auch der Blick auf heutige zeigen aber, dass viele dieser Ängste und Vorurteile keinen faktischen Hintergrund haben. Nehmen wir das Kriminalitätsargument: Sieht man sich an, was in Milieus passiert, die ähnlich wie ausländische stark von jungen Männern geprägt werden, so zeigt sich kein signifikanter Unterschied. Auf dem Münchner Oktoberfest gab es mehr Konflikte als bisher in Flüchtlingsheimen, in denen ganz andere Bedingungen herrschen. Oder nehmen wir die Religion: Lassen wir die kleinen fundamentalistischen Minderheiten außen vor, zeigt sich, dass 80 Prozent der Muslime ebenso wenig regelmäßig in die Moschee gehen wie 95 Prozent der Christen nicht in Kirchen. Es gibt im Grunde mehr Gemeinsames, also eine gewisse Distanz zu Kirche und Gott im Alltag, als religiös Trennendes.

Wenn über Integration geredet wird, bewegt man sich argumentativ meist auf einer Einbahnstraße: Die Ausländer sollen sich hier einfügen. Inwieweit werden sich auch die Deutschen den Neubürgern aus anderen Kulturkreisen anpassen müssen?

Kaschuba: Wir können mit großem Selbstbewusstsein Zeugen einer "gelingenden" Gesellschaft sein. Nach dem zwar günstig erkauften Sommermärchen 2006 haben wir jetzt die Chance auf ein echtes Wintermärchen. Denn wir stehen heute ja nicht nur mit Willkommensfähnchen am Bahnhof, sondern sind eine Zivilgesellschaft, die sich "kümmert". Integration sollte heißen, dass man sich wechselseitig anpasst. Die Chancen dazu sind sehr unterschiedlich: Wer Arabisch oder Türkisch spricht, hat für uns ein Sprachdefizit; wer aus Frankreich oder den USA kommt, ein Sprachkapital. Davon abgesehen ist die Erfolgsgeschichte der Städte über 2000 Jahre hinweg eine der Zuwanderung. Oft waren Einheimische zu befangen in ihren lokalen Regeln, um Neues zu versuchen. So kam es von außen.

Welche Lehren sollten wir aus den Fehlern der letzten Zuwanderungswellen ziehen?

Kaschuba: Zu allererst eine verantwortlichere Sprach- und Bilderpolitik in Politik und Medien, damit die spezielle deutsche Ikonografie dieser Angstbilder rund um Fremdheit abgebaut wird. Dazu brauchen wir frühen Spracherwerb, möglichst früh Schul- und Bildungs- und Arbeitskontakte im Alltag. Denn Kontakte und Kommunikation helfen, Stereotypen abzubauen. Immer schon.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort