Hinter den Gardinen der Puppenhäuser

Saarbrücken. Wie die Bilder sich gleichen: Wie in England ist auch in Deutschland die erste Auflage von "Der Außenseiter" aus dem Stand vergriffen. "Über die Autorin gibt es nicht mehr zu berichten, als dass sie mit ihrer Familie in London lebt und dies ihr erster Roman ist", hält sich der Verlag auf Nachfrage bedeckt

 Sadie Jones, die erfolgreiche Debütantin. Foto: Schöffling & Co.

Sadie Jones, die erfolgreiche Debütantin. Foto: Schöffling & Co.

Saarbrücken. Wie die Bilder sich gleichen: Wie in England ist auch in Deutschland die erste Auflage von "Der Außenseiter" aus dem Stand vergriffen. "Über die Autorin gibt es nicht mehr zu berichten, als dass sie mit ihrer Familie in London lebt und dies ihr erster Roman ist", hält sich der Verlag auf Nachfrage bedeckt. In den Klappentext schreibt er die gern genutzte Vokabel "überwältigend". Nur: Diesmal stimmt sie.

Sadie Jones hat einen ziemlich perfekten Roman über das britische Landleben in den 50er Jahren geschrieben, über die Zeit, als ihre Eltern jung waren. Der Krieg ist aus, die Männer kehren heim. Wir sind wieder wer und das Leben muss weitergehen. Überall gibt es geschäftliche Aufstiegschancen, die von den Herren des Dorfes Waterford in Zugstundenreichweite zu London geschäftig genutzt werden. Sind sie unterwegs in die Büros, mixen ihre gelangweilten Frauen den ersten Martini, derweil sich die Haushälterinnen ums Mittagessen kümmern. Geordnete Verhältnisse, Kricket, gepflegte Rasenflächen, Kirchgang und Cocktailpartys als Besitzvorführungen und Flirtverführungen zu vorgerückter Stunde, derweil die Kinder in Elite-Internaten ihren Eltern immer ähnlicher werden sollen. Eine Idylle, die trügt.

Vor jeder Apokalypse war die Lage irgendwann normal. Dann aber hatte es doch nicht immer so weitergehen können, weil Außenseiter als Sand im Getriebe auftauchten. Oder als Katalysatoren, die moralische Unordnungen hinter den Gardinen der Puppenhäuser zu heftigen Reaktionen befeuerten. Lewis Aldridge zum Beispiel war zehn, als er mit ansehen musste, wie seine Mutter alkoholisiert ertrank. Fortan ist nichts mehr, wie es war. Viel zu heftig wird an seiner Unschuld gezweifelt, viel zu sehr verstrickt er sich in seine ödipale Gedankenwelt, viel zu schnell geht der Vater zur Tagesordnung über und präsentiert eine neue Frau, viel zuviel Wut wächst im Kopf dieses Jungen.

Über zehn Jahre verfolgen wir, wie er vereinsamt, sich seiner Umgebung entfremdet, wie ein Sohn aus gutem Hause zum Störenfried heranwachsen muss, weil rigide, bigotte und ausgehöhlte Normen ihn dazu machen. Lewis hat keine Chance, weil er keine haben soll. Der Vater hat kein Interesse an ihm, die filmreife Tochter von nebenan flirtet ihn sportlich um den Schlaf, die viel zu junge Schwiegermutter schläft tatsächlich mit ihm, der Nachbar schlägt ihn nieder, und in der Kirche will keiner hinsehen. Zwischen Verstummen und Ausrasten bleibt immer nur die Flucht vor den Intrigen, die Flucht in Selbstverstümmelung, Alkohol, Brutalität und in das wirkliche Leben von London-Soho. Lewis setzt ein verzweifeltes Fanal, das ihn für zwei Jahre ins Gefängnis bringt. Im pathetischen Finale dann sieht auch er aus, als käme er aus dem Krieg.

Derweil die Väter Kipling empfehlen, lesen die Kinder Sartre. Die Literaturgeschichte ist voll von Pubertätsdramen. Dieses aber ist von ganz außerordentlicher Qualität. Lapidar und punktgenau reiht Sadie Jones die Sätze und steigert präzise und ungeschwätzig ihre kammerspielartigen Ereignisse in die Katastrophen. Sie schreibt großartige Dialoge, hat Worte für Gefühle und Innenwelten ihrer Figuren und kann ihre poetische Offenheit faszinierend schlüssig fokussieren. Ihr Buch ist spannend, temporeich und schreit nach Verfilmung. Man liest es wie in einem Sog, weil der Ton stimmt, ohne dass er sich dröhnend aufdrängte.

Sadie Jones: Der Außenseiter. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. Schöffling & Co. 412 Seiten. 22,90 €

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