Hinter den Floskeln beginnt der Abgrund

Saarbrücken · Auf elf Teile hat der Schriftsteller Andreas Maier die Kindheits-Chronologie „Ortsumgehung“ angelegt. „Die Straße“ ist das dritte Buch und erzählt von den 70er Jahren im hessischen Friedberg.

Gegen Ende zitiert Andreas Maier Sallust, der gesagt hat, dass wir die wahren Dinge für die Worte verloren haben. Was heißt, dass unsere Sprache formelhaft geworden ist, dass sie blendet, in die Irre führt. Ihre Gleichmacherei löscht Individualität aus und führt weg von den Wahrheiten. Das Sallust-Zitat ist programmatisch für Maiers neues Buch, das man nicht wirklich Roman nennen kann. Eher ist es ein bisweilen fast essayistischer Bericht über eine Adoleszenz in den späten 70ern in Friedberg/Wetterau. Maier zitiert Sallust nicht von ungefähr: Er will am Beispiel der eigenen Herkunft wieder fühlbar machen, was hinter Floskeln bis zur Unkenntlichkeit verschwunden ist.

"Die Straße", der dritte Teil einer auf elf Teile angelegten Kindheits-Chronologie unter dem Titel "Ortsumgehung", führt - jedenfalls in der zugespitzten Lesart Maiers - in die durchsexualisierte Welt der späten 70er. Die "schwarzen Löcher" des Triebhaften lugen hinter der "heimeligen Gemütlichkeit" beklemmender Reihenhaussiedlungen hervor, die den heranwachsenden Andreas des Buches früh ekelt. Auf der einen Seite die Jungs und Mädchen, die bei Doktorspielen ihre Körper entdecken, Petting erproben und ihre erwachende Sexualität als Welle erleben, der sie nicht ausweichen können (und wollen). Auf der anderen Seite die Erwachsenenwelt mit Anzüglich- und Handgreiflichkeiten der Männer, die Freundinnen ihrer Töchter gerne mal um die Taille langen oder Jungs in die Hose. Ihre Frauen wissen Bescheid, "auch wenn sie die Neigungen ihrer Männer gemeinhin nicht teilten, die bei diesen ja ohnehin erst mit der Zeit gewachsen war, von Jahr zu Jahr mehr, wie der Bauch".

Es ist das Jahrzehnt vor dem Aufkommen des Privatfernsehens. Die Zeit, in der Heranwachsende noch von der "Bravo" aufgeklärt werden, was ihren in dieser Hinsicht sprachlosen Eltern ganz recht ist. Maier beschreibt, wie Väter ihre Töchter durch die von GIs aufgewühlte US-Garnisonsstadt Friedberg eskortieren, um das Schlimmste zu verhindern. Vergegenwärtigt, wie man mit der Tochter und einem GI quälende Sofa-Abende verbringt, um jede Berührung zu unterbinden, und wie andererseits Amerika zum großen Sehnsuchtsbegriff wird, man AFN hört und in einem PX einkaufen will, den Verteilungscentern der GIs.

Aber ausgerechnet ein Amerikaner wird im letzten Teil des Buches zum "Urbild des Schmerzes" im Leben des jungen Andreas: ein als Austauschschüler ein Jahr mit im Haus wohnender, fettleibiger 17-Jähriger. Kaum in Deutschland, wird John Boardman missbraucht, um danach alles in sich hineinzustopfen. In der Schwebe bleibt, inwieweit Maiers Erzähler-Ich Ähnliches zustieß. Jedenfalls begreift man, weshalb am Ende ausgerechnet ein Außenseiter wie der alte Adomeit, bei dem Erotikhefte offen herumliegen, zur integeren Gegenfigur wird zur Verlogenheit und Zwielichtigkeit: Er war "kein Schwein und keiner, der einen zu einem Mitschwein machen wollte".

Die Fixierung auf das Sexuelle, die in diesem Buch fast allem und jedem unterstellt wird, hat etwas Obsessives und wirkt vor allem im Mittelteil in ihrer ständigen Wiederholung redundant. Maiers extrem nüchterner, berichthafter Stil trägt mit seinem spitzfingrigen Gestus ("obwohl mir manches bisweilen freilich etwas seltsam vorkam") das seine dazu bei. Der Plan, das Innenleben einer Zeit im Zeichen ihrer sexuellen Prägungen auszuleuchten, aber geht auf. Die Wellen und Schauer, von denen so oft die Rede ist, beobachtet dieser Autor zwar aus großer Entfernung - doch sieht er sie dafür per ausschnitthafter Vergrößerung umso genauer.

Andreas Maier: Die Straße. Suhrkamp, 296 Seiten, 19,95 €

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