Grüne Blütenträume

Meinung · Die Grünen stecken in einer wenig komfortablen Situation: Ihnen fehlt eine klare Macht-Perspektive, weil Lafontaines Linke das Parteiensystem aufmischt und die klassische politische Farbenlehre zu verschwimmen droht. Deshalb wollen die Ökos erst mal grün pur sein und "nicht Bindestrich-Grün"

Die Grünen stecken in einer wenig komfortablen Situation: Ihnen fehlt eine klare Macht-Perspektive, weil Lafontaines Linke das Parteiensystem aufmischt und die klassische politische Farbenlehre zu verschwimmen droht. Deshalb wollen die Ökos erst mal grün pur sein und "nicht Bindestrich-Grün". Was das bedeuten kann, zeigte sich schon im vergangenen Jahr: Beim Göttinger Parteitag wäre die Afghanistan-Politik Joschka Fischers beinahe vollends entsorgt worden. Und beim Nürnberger Parteitag verabschiedete die Basis eine 60 Milliarden Euro teure Grundsicherung. Auch das Erfurter Delegiertentreffen am Wochenende war nicht frei von Wunsch und Wolke. Das Scheitern des ausgewiesenen Wirtschafts-Experten Fritz Kuhn bei der Wahl zum Parteirat zeigt, wie dünn die Luft für lupenreine Realos bei den Grünen geworden ist. Auch gelang den Führungsleuten nur mit Mühe ein Formulierungskompromiss, der die (unrealistische) Gewissheit, den Strom in zwei Jahrzehnten komplett aus erneuerbaren Energien zu gewinnen, etwas abschwächte. Verständlich zwar, dass sich die Grünen bei ihrem Urthema, der Ökologie, von keinem übertreffen lassen wollen. Wenn ehrgeizige Forderungen jedoch in Phantasterei umschlagen, wird es für die Grünen gefährlich. Der Wähler nimmt sie nicht mehr ernst. Und wenn es - gleich, ob mit Rot, Gelb oder Schwarz - zum Regieren kommt, muss die grüne Basis wieder runter von den Bäumen, was die Partei schon mehrfach in eine politische Zerreißprobe trieb. Siehe Afghanistan oder Atomausstieg.Reinhard Bütikofer verstand es insgesamt gut, die Partei in der Balance zwischen radikalen Ideen und pragmatischer Politik zu halten. Ob sein Nachfolger Cem Özdemir die Kunst des Vermittelns und Integrierens beherrscht, muss sich erst erweisen. Als strategischer Kopf und Visionär fiel er bisher nicht auf. Doch der eloquente Deutschtürke hat eine rhetorische Begabung, und Talkshow-Tauglichkeit ist für das Superwahljahr 2009 schon eine ganze Menge. Die Grünen werden sie brauchen können. Seit der Abdankung des Übervaters Joschka Fischer fehlt der Partei ein profiliertes Gesicht. Wenn sich der in Erfurt beschworene Dreiklang aus ökologischer Verantwortung, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Impulsen nicht mit einer unverwechselbaren Persönlichkeit verbindet, werden die Grünen nächstes Jahr im Wahlkampf-Marathon auf der Strecke bleiben. Es kann der Partei nicht allein darum gehen, möglichst viele Atomkraft-Gegner nach Gorleben zu karren. Sie muss noch mehr Menschen dazu bringen, grün zu wählen. Das wird schwer genug.

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