Grass, buchstäblich grimmig

Saarbrücken. Das "Deutsche Wörterbuch", 1837 von den Gebrüdern Grimm begonnen und erst 123 Jahre später abgeschlossen, ist ein Heiligtum der deutschen Sprache

Saarbrücken. Das "Deutsche Wörterbuch", 1837 von den Gebrüdern Grimm begonnen und erst 123 Jahre später abgeschlossen, ist ein Heiligtum der deutschen Sprache. Nach dem Willen der Autoren sollte es die deutsche Einheit vorantreiben, die Gegenwartssprache erneuern und, wie Grimms Märchen, ein Hausbuch werden, das jeder Deutsche "mit verlangen, oft mit andacht" zur Hand nähme. Der fromme Wunsch erfüllte sich nicht; die Orthografie (so verschmähten die Grimms konsequent den "albernen gebrauch groszer buchstaben") und der schiere Umfang - 331 000 Wörter auf 34 000 Seiten - waren zu abschreckend. Aber für Schriftsteller blieb der Grimm eine unverzichtbare Rüst- und Wunderkammer. Thomas Mann sprach von der "unterhaltsamsten Lektüre von der Welt", Marcel Reich-Ranicki vom "interessantesten Roman" der deutschen Literatur. Jetzt hat auch Günter Grass eine Hommage an "Grimms Wörter" geschrieben und angemessen stilvoll drucken lassen. Schweres Papier, Vignetten von eigener Hand, Fadenheftung, Schuber. Grass' "wahrscheinlich letztes Buch" sollte eine Art Vermächtnis mit Goldrand werden. Es ist kein kraftstrotzender Roman wie "Die Blechtrommel" geworden, aber auch keine staubtrockene Polit-Parabel wie "Ein weites Feld" und nicht ganz so rechthaberisch wie zuletzt "Beim Häuten der Zwiebel". Selbstverliebt wie eh und je, aber doch auch gelegentlich demütig, heiter verspielt und altersmild, will der 83-Jährige an der Schwelle des Verstummens noch einmal sein Leben und Werk im Spiegel von Grimms Wörtern zur Sprache bringen. Das Konzept ist überzeugender als die Ausführung. Gewiss, das alphabetisch-lexikalische Prinzip kommt Grass' Hang zur Ausschweifung diesmal entgegen. Anders als in "Mein Jahrhundert" sind Autobiografie und deutsche Geschichte nicht nur am dünnen Faden der Chronologie zusammengeknüpft. Sprache und Leben werden wortwörtlich durchbuchstabiert, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen in einer zeitlosen "Vergegenkunft" zusammen. Grass sieht sich selbst auf Knien noch auf Augenhöhe mit dem Brüderpaar. Ihre Feinde und Verbündeten, ihre Sprach- und Wortgewalt sind auch seine. Wenn der romantische Wilhelm und der wissenschaftliche Jacob im Berliner Tiergarten streiten, sitzt er als Mäuschen im Gebüsch. Grass, von jeher schwerhöriger Selbstunterhalter, macht großzügig von der Freiheit des Alters Gebrauch. Was mit den Grimms groß begann, kommt bei ihm zu einem vorläufigen Ende. So kommt Grass etwa beim Protest der "Göttinger Sieben" gegen den Eidbruch ihres Landesherrn auf seinen SS-Eid zurück: "Nie wieder würde ich einen Eid leisten." Jacobs Paulskirchenreden führen umstandslos zu Grass' rhetorischen Heldentaten am nämlichen Ort; der Verfassungsbruch 1837 in Hannover wiederholt sich in dem von 1989, das Asyl der Grimms in Berlin und Kassel gibt Grass willkommenen Anlass zur Kritik der deutschen Asylpolitik. So beschwört die alte Unke wieder den Untergang der Demokratie und erinnert sich gern der Zeit, als er und Willy Brandt noch tapfere Schnecken auf der Kriechspur des sozialdemokratischen Fortschritts waren. Die Passagen, in denen Grass sich ranschmeißerisch zwischen die Grimms drängt, gehören zu den schwächsten; kaum besser sind die eingestreuten Gedichte, in denen er beim assoziativ-buchstäblichen Ausschreiten Grimmscher Wortfelder von redensartlichen Hölzchen auf seine Stöckchen und Steckenpferde kommt.Aber Grass rettet, auch durch seinen altertümelnden, barock verschnörkelten Erzählgestus, viele schöne Wörter und Ideen vor dem Untergang. Über kühne "Wortbrücken" hinweg verschränkt er streckenweise geschickt autobiografische Erzählung und sprachhistorische Reflexion. "Grimms Wörter" ist eine anregende Doppelbiografie, eine spannende Entstehungs- und Editionsgeschichte ihres größten Werks, Grass' persönliche Sprachgeschichte. Hauptsächlich aber ist seine "Liebeserklärung" an die deutsche Sprache doch eine an sich selbst, den Außenseiter, Märtyrer und Sündenbock unter literarischen Zwergen und politischen Opportunisten.Günter Grass: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. Steidl, 367 Seiten, 29,80 €.Dieses und weitere Bücher versandkostenfrei bestellen: www.saarbruecker-zeitung.de/empfehlungen

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