Kolumne Das Schattenmonster von oben drüber

Zu viel fernsehen hat bei unserer Autorin zu etwas Realitätsverlust geführt. Was wirklich passiert ist, war zu unglaublich.

Kolumne: Das Schattenmonster von oben drüber
Foto: SZ/Robby Lorenz

Ich sitze auf der Couch und „bingewatche“, wie man neudeutsch einen Serien-Marathon nennt, alle Folgen des US-Horrorerfolgs „Stranger Things“. Dabei genieße ich ein paar Karotten-Streifen mit Hummus. Stimmt gar nicht. In Wahrheit schnabuliere ich Chips – Salt & Vinegar. Aber das gebe ich nur ungern zu. Vor allem, weil es nicht etwa 20 Uhr abends ist. Es ist einer meiner freien Tage und elf Uhr in der Früh.

Am Ende der ersten Staffel sind die vier Kinder dem mysteriösen Schattenmonster, von dem die Serie handelt, dicht auf den Fersen. Während die Spannung ins Unermessliche steigt, kitzelt ein leises Kratzen aus dem Flur an meinen Ohren. Es wird immer lauter, ist langsam deutlich wahrnehmbar, als würden sich lange Fingernägel in der Wand vergraben. Aus dem Schürfgeräusch wird ein Hämmern. Poff, Poff, Poff. Immer heftiger poltert es im Flur. „Ist es das Schattenmonster, der Demogorgon?!?“, denk ich. Kinderschreie aus dem Fernseher. Die hat er schon erwischt. Bald bin auch ich dran. Vorsichtig öffne ich die Wohnzimmertür. Ein Rohr, sonst unscheinbar in einer Ecke meiner Flurdecke versunken, bewegt sich wie von Geisterhand. Auf und ab. Der Putz rieselt von der Decke. Tiefe Krater hinterlässt das gebogene Stück Eisen. „Stopp, stopp, aufhören“, schreie ich. Alles Flehen, es ist vergebens. Mit einem letzten Poff bricht das Rohr durch die Decke. Es ist nicht der Demogorgon, in dessen Antlitz ich jetzt blicke, sondern das verdutzte Gesicht eines Bauarbeiters, der ein Stockwerk über mir gerade eine Wohnung renoviert. Ein großes Loch, zehn Zentimeter Durchmesser, ziert jetzt meine Altbaudecke. „Isch kann jo nedd durch die Deck gugge“, sagt der Rohrzieher. Na ja… Ich jetzt schon.

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