Gefährliche Gelassenheit

Die heiße Phase hat begonnen: Am 18. September dürfen vier Millionen Wähler darüber abstimmen, ob Schottland sich nach 307 Jahren vom Vereinigten Königreich abspaltet. Umfragen zufolge holen die Unabhängigkeitsbefürworter kontinuierlich auf, 47 Prozent würden sich aktuell für die Autonomie aussprechen.

Doch zahlreiche Schotten sind noch unentschieden. Der Chef der Scottish National Party (SNP), Alex Salmond, wirbt unermüdlich für die "historische Chance" auf einen souveränen Staat.

Viele Argumente klingen nachvollziehbar mit Blick auf Großbritanniens Wirtschaft, die sich stark auf den Finanzplatz London konzentriert. Die Politik scheint bei Entscheidungen allzu oft die Interessen des übrigen Landes zu vergessen und hat es zuletzt versäumt, die Bedürfnisse Schottlands ernst zu nehmen. Mittlerweile strampeln die Unionisten von "Better together" der verlorenen Zeit hinterher. Viel zu lange fühlte sich die Mehr-Parteien-Kampagne siegesgewiss. Sie unterschätzte den charismatischen Salmond und wirkte apathisch. Als sie den Ernst der Lage erfasste, machte sie Fehler. Je mehr Angstszenarien in Westminster heraufbeschworen wurden, desto entschlossener zeigten sich die Schotten, das Königreich zu verlassen. Angesichts des schwindenden Vorsprungs nehmen Cameron und Co. die Scharmützel der Landsleute nun ernster.

Trotzdem blickt London dem Volksentscheid relativ gelassen gegenüber. Zu gelassen, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Das ist erstaunlich, immerhin käme eine Abspaltung einem verfassungspolitischen Erdbeben gleich, das nicht nur anderen Abweichlern in Spanien oder Frankreich Auftrieb geben könnte. Auch wenn das Programm der SNP voller Widersprüche steckt - ungünstig wäre ein eigenständiges Schottland vor allem für Großbritannien. Die Briten müssten einen neuen Standort für die Atomabschreckung finden, was teuer werden dürfte. Außerdem fielen massive Steuereinnahmen weg und die Haushaltskasse müsste auf die Rohstoffmilliarden aus den Öl-und Gasvorkommen in der Nordsee verzichten. Der Exportsektor floriert in Schottland , Whisky und Lachs, Dienstleistungen und Maschinen "Made in Scotland" genießen in aller Welt Ansehen.

Die Umstellung dürfte sich für die Separatisten in den ersten Jahren des Alleingangs schwierig gestalten, aber der große Verlierer wäre London . Und Premier Cameron vergisst bei allen Überzeugungsversuchen eins: Er kokettiert unentwegt mit Abspaltungsbestrebungen - von der EU. In der aber wollen die Schotten auf jeden Fall bleiben. Die Vorstellung, dass Schottland bald als eigenständiger Staat EU-Mitglied ist und Großbritannien als Kleinbritannien vor der Türe Europas steht, verliert mehr und mehr ihre Absurdität.

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