Figuren leben, wenn ihr Autor ihnen hinterherläuft

Saarbrücken. Worum es in Jörg Walter Gronius' Geschichten geht? Um Leute, die nur durch Häuser hindurch - und nie über die Straße - irgendwo hingehen. Um ein Wirtshaus im Spessart mit Jukebox, in der als Endlosschleife "Monja" von den Flippers läuft, das die wie ferngesteuert zu einem Staudamm ziehenden Gästen begrölen

Saarbrücken. Worum es in Jörg Walter Gronius' Geschichten geht? Um Leute, die nur durch Häuser hindurch - und nie über die Straße - irgendwo hingehen. Um ein Wirtshaus im Spessart mit Jukebox, in der als Endlosschleife "Monja" von den Flippers läuft, das die wie ferngesteuert zu einem Staudamm ziehenden Gästen begrölen. Um einen infernalisch schwitzenden Schauspieler, der sich ertränkt, weil er sein krankhaftes Transpirieren nicht mehr erträgt. Um einen Autor, der von einem ihm unbekannten Milliardär einen Blankoscheck erhält, der ihn zum Millionär macht, woraufhin er am nächsten Tag in einem Baumarkt auf dort beschäftigte Landschaftsarchitekten und Transplantationschirurgen trifft.

Unerhörte Ereignisse treffen in den Geschichten von Gronius, das ist eines ihrer Grundprinzipien, mit der allergrößten Selbstverständlichkeit ein. Wenn sie ins Surreale abdriften, dann sehr plötzlich und ohne dass dies den Erzählfluss im Geringsten stört, verändert. Dafür erweitert es unsere Phantasieraumzonen. Und sorgt für Amüsement. Sinn und Zweck dieser Realitätsbrechungen dürfte es aber auch sein, "ein Netz vermeintlicher Bedeutungen zu knüpfen". Eines, das - so spricht Gronius in Gestalt einer seiner Figuren gewissermaßen über Bande zu uns - "wenn Sie so wollen, von stärkerer, intensiverer Wirklichkeit als die unsere" ist. Nicht jede der 15 Kurzgeschichten, die der Conte Verlag nun gebündelt hat, löst diesen erzählerischen Anspruch ein. Manchmal führen die Einfälle in Sackgassen. Verenden als Gags. Gemeinsame Klammer aller Texte ist das Wasser: Entweder wird darin gestorben ("Die Abkühlung", "Das Reich der Fische", "Das letzte Wort") oder aber seine Pegelstände markieren mehr oder minder symbolisch aufgeladene Katastrophen ("Auf der Brücke", "Das Wirtshaus im Spessart", "Das Kind", "Das Unglück"). Wo beides ausbleibt, verhindert zumindest ein Aquarium (als Requisit) das Abreißen des Wassermotivfadens.

In kurzen Sätzen, bei aller schmucklosen Nüchternheit sind sie von balletthaftem Ton, setzt und variiert Gronius sehr beiläufig Themen wie Perspektiven. Nach dem äußerst lebenswirklichen Motto "Nicht alles ist so, wie es ist", wie es eine Figur in "Alte Knaben" formuliert. Gronius erweist sich nicht nur als Meister der unvermittelten Anfänge, er schüttet auch sein erzählerisches Füllhorn nie aus, sondern bleibt im Gegenteil aus Prinzip unter seinen (Entfaltungs-)Möglichkeiten. Gefragt weshalb, erzählt er, dass er "immer zu kurz" sei.

"Ich muss wirklich arbeiten, wenn's länger werden soll." Eigene Texte zu überarbeiten, heißt bei ihm, sie zu ergänzen. Das sei schon bei seinen Beiträgen für den Funk immer so gewesen. "Immer zu kurz." Er erklärt es selbst mit seinem dramaturgischen Vorleben, das zum Verdichten, zum Zwischen-den-Zeilen-Wirken erzog: 15 Jahre lang arbeitete Gronius, den es der Liebe wegen 2006 nach Saarbrücken verschlug, als Dramaturg an großen Bühnen (von der Berliner Schaubühne bis zum Hamburger Schauspielhaus).

Sein Brot verdient er heute mit dem Schreiben von Libretti - derzeit als Co-Autor für ein Musical über Grace Kelly. Bis heute ist es für ihn "überwältigend, wenn ich einen Text von mir gesungen höre". Mit seinem alten Schulfreund Bernd Rauschenbach, Mitherausgeber der Bargfelder Arno-Schmidt-Ausgabe, schrieb er erfolglos Stücke, die sie in dadahaften Performances mit umso mehr Hingabe intonieren und anstimmen. Manchmal auch in Saarbrücken, dessen Literaturszene Gronius nun bereichert. Als nächstes mit einem in Wien spielenden Liebesroman. Leben würden Figuren, "wenn man ihnen beim Schreiben hinterherläuft", sagt er. Die seinen verschwinden meist schon nach ein paar Seiten. Er kommt also nicht außer Atem.

Jörg W. Gronius: Im Reich der Fische. Conte, 129 S., 11,90 €

Jörg W. Gronius: Ein Stück Malheur / Der Junior / Plötzlich geht alles ganz schnell - Alle drei autobiografischen Romane sind im Weidle Verlag (Bonn) erschienen.

Lesung heute um 20.15 bei Thalia in Saarbrücken.

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