Europäische Nabelschau

Meinung · Wenn Europa in den nächsten Wochen mit dem lange ersehnten Reformvertrag in der Hand und zwei neuen Führungspersönlichkeiten an der Spitze wieder aufwacht, wird die Bilanz zweifelhaft ausfallen. Statt die Zeit wie oft gefordert für "Vertiefung statt Erweiterung" zu nutzen, hat die Nabelschau die Gemeinschaft nicht enger zusammenrücken lassen, sondern die vorhandenen Gräben vertieft

Wenn Europa in den nächsten Wochen mit dem lange ersehnten Reformvertrag in der Hand und zwei neuen Führungspersönlichkeiten an der Spitze wieder aufwacht, wird die Bilanz zweifelhaft ausfallen. Statt die Zeit wie oft gefordert für "Vertiefung statt Erweiterung" zu nutzen, hat die Nabelschau die Gemeinschaft nicht enger zusammenrücken lassen, sondern die vorhandenen Gräben vertieft. Der Streit um die Solidaritätsabgabe an die Dritte Welt, damit für Afrika Klimaschutz überhaupt zum Thema werden kann, zeigt: Ost und West verstehen einander bis heute nicht. Dabei ist das Klima nur einer von vielen Punkten, in denen die Union auseinanderdriftet. Beim Ausbau des Binnenmarktes oder der inneren Sicherheit mögen Differenzen nicht so sehr ins Gewicht fallen. Viel entscheidender ist da schon, wie die EU es künftig mit ihrem Versprechen hält, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen. Der neue "EU-Außenminister", der offiziell nur Hoher Beauftragter für die Außenpolitik heißen darf, wird auf Konsens angewiesen sein, um im Nahen Osten, gegenüber dem Iran, im Gespräch mit Washington und Moskau oder China machtvoll auftreten zu können. Aber schon beim Thema Afghanistan scheiden sich Europas Geister.Ohnehin hat man sich um die Frage, was die beiden neuen Figuren an der Spitze der EU eigentlich tun sollen, keine Gedanken gemacht. Soll der Präsident des Europäischen Rates nun ein Geschäftsführer oder eine Persönlichkeit mit eigenem Führungsanspruch sein? Letzteres erscheint unwahrscheinlich. Weder Berlin noch Paris oder London werden sich die außenpolitischen Fäden aus der Hand nehmen lassen. So schliddert die Union nach den Jahren der Nabelschau genau genommen in die nächste Phase der Selbstfindung. Anstatt sich mit den Grundfragen wie Umfang, Sinn und Grenzen von Erweiterung zu beschäftigen oder für die Agrarpolitik von morgen Perspektiven zu finden, auf die sich Bauern verlassen können, leistet sich Brüssel ein Führungsdurcheinander. In dieser Situation wünscht man sich, dass die Wahl dank glücklicher Fügung auf eine Persönlichkeit fällt, die charismatisch genug ist, um sich nicht auf die Geschäftsordnung von EU-Gipfeln zu beschränken, sondern die auch den Menschen so etwas wie europäische Begeisterung zurückgeben kann. Denn wenn am Ende des Monate und Jahre dauernden Ringens um eine EU-Reform nicht mehr herauskommt, als zwei neue, gut bezahlte Jobs, hat die EU ihre Mission vergessen: Zusammen das auf die Beine zu stellen, was die Mitgliedstaaten alleine nicht schaffen.

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